Keimarme Ernährung bei der Hochdosistherapie: ein Risiko für PatientInnen

  • 14.03.2022
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  • Luca Schmidt
  • Nicole Erickson
  • Christine Reudelsterz
  • Julia von Grundherr
  • Diana Rubin
  • Andrea Lambeck
  • Uta Köpcke
  • Jann Arends
  • Jutta Hübner
  • für die Arbeitsgemeinschaft Prävention und Integrative Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft, den Arbeitskreis Ernährung, Stoffwechsel, Bewegung der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie, den Verband der Diätassistenten – D

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Peer-Review-Verfahren / Stellungnahmen und Positionspapiere unterliegen in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU, wie auch in vielen anderen Fachzeitschriften, nicht dem Peer-Review-Verfahren, weil es sich hierbei bereits um vielfach durch ExpertInnen (Peers) bewertete, diskutierte und auf breiter Basis konsentierte Texte handelt.

Hintergrund

Im Rahmen der hämatologischen Stammzelltransplantation (HSZT) wird das Immunsystem durch die Chemotherapie stark geschwächt [1]. Daher werden seit über drei Jahrzehnten PatientInnen nach einer HSZT durch eine sog. keimarme Ernährung in der Auswahl der Nahrungsmittel erheblich eingeschränkt [1]. Durch den Verzicht auf zahlreiche Lebensmittel und besondere Vorgaben zur Zubereitung soll das Risiko einer Lebensmittelinfektion von den immunsupprimierten PatientInnen reduziert werden [2]. Dies erscheint zunächst rational, da Infektionen bei Betroffenen tatsächlich mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität assoziiert sind [3]. Dennoch mangelt es an wissenschaftlicher Evidenz, ob durch die Einhaltung einer keimarmen Ernährung Infektionen verhindert werden [1]. Dies ist von Relevanz, weil eine strikte Begrenzung der Nahrungsoptionen die Lebensqualität beeinflussen und den Erhalt des Körpergewichts gefährden kann.

Nach der Definition des Robert Koch-Instituts (RKI) ist eine keimarme Ernährung eine „Explizite Vermeidung jeglicher Nahrungsmittel, die über eine Kontamination mit und Übertragung von fakultativ pathogenen oder opportunistischen Mikroorganismen Infektionen bei immunsupprimierten Patienten auslösen können.“ [4]
In der Praxis wird dies in unterschiedlicher Weise durchgeführt. Moody et al. [5] definierten 2006 eine Kostform dann als „keimarm“ (neutropenic diet), wenn sie rohe Früchte ausschloss, die nicht geschält werden können, und wenn sie weder rohes Gemüse enthielt, noch gereiften Käse, Wurstaufschnitt, Fast Food oder Nahrung, die außer Haus zubereitet wurde. In ihrer 2018 publizierten Studie [6] wurden für diese Kostform zusätzlich Nüsse und Jogurt ausgeschlossen. Van Thiel et al. [7] untersuchten in einer 2007 publizierten klinischen Studie eine „keimarme“ Kost (low bacterial diet) ohne rohes Gemüse, Salat, Weichkäse, rohe Fleischwaren, frische Früchte, Leitungswasser und Gewürze, die nicht erhitzt wurden. Trifilio et al. [8] berichteten 2012 über eine „keimarme“ Kost (neutropenic diet), die weder frisches Obst oder Gemüse enthielt, noch schwarzen Pfeffer, rohes oder nicht durchgegartes Fleisch, nicht ausreichend erhitzte Käseprodukte, kaltgeräucherten Fisch, nicht-pasteurisierte Milchprodukte, rohe Miso-Produkte, rohe Getreideprodukte oder Bierhefe.

Stellungnahme

  • der Deutschen Krebsgesellschaft, Arbeitsgemeinschaft Prävention und Integrative Onkologie
  • der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie, Arbeitskreis Ernährung, Stoffwechsel, Bewegung
  • des Verbandes der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband e. V.
  • des BerufsVerbandes Oecotrophologie e. V.

Abstract

Die keimarme Ernährung ist seit Jahrzehnten eine Ernährungsform, die in vielen Zentren PatientInnen mit intensiven Chemotherapien und/oder einer hämatologischen Stammzelltransplantation verordnet wird. Die Evaluation der wissenschaftlichen Daten zur keimarmen Ernährung zeigt jedoch, dass diese keimarme Ernährung keinen Vorteil, aber erhebliche Risiken für die PatientInnen mit sich bringt. Diese Ernährungsform ist deshalb nicht indiziert.
Die unterzeichnenden Fachgesellschaften und Arbeitsgruppen fordern deshalb alle ÄrztInnen, Pflegekräfte, ErnährungstherapeutInnen und DiätassistentInnen dazu auf, PatientInnen unter und nach intensiven Chemotherapien umfassend ernährungsmedizinisch zu beraten. Dies umfasst eine ausführliche Information und Schulung der PatientInnen und Angehörigen zu Hygienemaßnahmen in der Küche und beim Verzehr von Nahrungsmitteln.

Schlüsselwörter: Keimarme Ernährung, Chemotherapie, hämatologische Stammzelltransplantation, Immunsuppression, Mangelernährung, Hygieneschulung, Krebs, Ernährungsmedizin, Ernährungstherapie

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Peer-Review / Opinions and position papers in ERNÄHRUNGS UMSCHAU, as in many other journals, are not subject to the peer review process because these texts have already been evaluated, discussed, and widely agreed upon by experts (peers).

Neutropenic diet during high-dose therapy: a risk for patients

Statement

  • of the German Cancer Society, Working Group Prevention and Integrative Oncology (PRIO)
  • the German Society for Hematology and Medical Oncology, Working Group Nutrition, Metabolism, Exercise;
  • the German Association of Dietitians an the
  • Professional Association of Oecotrophologists

Abstract

The neutropenic diet has been a dietary regimen prescribed in many centers to patients undergoing intensive chemotherapies and/or hematologic stem cell transplantation for decades. However, evaluation of the scientific data on the low-germ diet shows that this diet has no benefit but considerable risks for patients. Therefore, this form of nutrition is not indicated. The undersigned professional societies and working groups therefore call on all physicians, nurses, nutrition therapists and dieticians to provide comprehensive nutritional medical advice to patients undergoing and after intensive chemotherapy. This includes detailed information and training of patients and relatives on hygiene measures in the kitchen and when consuming food.

Key words: neutropenic diet, chemotherapy, hematologic stem cell transplantation, immunosuppression, malnutrition, hygiene training, cancer, nutritional medicine, nutritional therapy

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Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 3/2022 auf den Seiten M134-M139.

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