Der „Ernährungsreport“ heißt zwar „Deutschland, wie es isst“, misst aber nur „Deutschland, was es theoretisch beim Essen wichtig findet“. © dragana991/iStock/Getty Images Plus
Der „Ernährungsreport“ heißt zwar „Deutschland, wie es isst“, misst aber nur „Deutschland, was es theoretisch beim Essen wichtig findet“. © dragana991/iStock/Getty Images Plus

"Am wichtigsten ist, dass es schmeckt": Wenig inhaltsreiche Ergebnisse des Ernährungsreports 2020

  • 08.06.2020
  • News
  • Dr. Sabine Schmidt

Wie in den letzten Jahren veröffentlichte auch dieses Jahr das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft wieder seinen Ernährungsreport: „Deutschland, wie es isst“ [1]. Der Report basiert auf einer repräsentativen Telefonumfrage des Instituts forsa bei 1000 VerbraucherInnen zur Einstellung der Deutschen zur Ernährung [2, 3].

Nicht zu verwechseln ist diese Trendumfrage zu den Einstellungen der Deutschen mit dem Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, der mit aufwändigem Verfahren aus einer Vielzahl von wissenschaftlichen Studien jeweils im 4-Jahres-Zeitraum (der 14. Bericht wird dieses Jahr erscheinen [4]) für die Bundesregierung erstellt wird und das tatsächliche Ernährungsverhalten sowie viele weitere Aspekte der Ernährung in Deutschland erhebt.

Der Ernährungsreport brachte auch in diesem Jahr wenig Neues: Am wichtigsten ist es den Deutschen demnach beim Essen, dass es schmeckt. In der Coronakrise wurde u. a. mehr selbst gekocht, v. a. in Familien mit Kindern [2, 3].

Einige interessante Zahlen gibt es dennoch, v. a. im Bereich vegetarische/vegane Ernährung: 83 % der Befragten können inzwischen korrekt erklären, was „vegane“ Ernährung bedeutet. 1 % ernähren sich nach eigener Aussage vegan und 5 % vegetarisch. 55 % erklären, dass sie manchmal bewusst auf Fleisch verzichten. 18 % der VeganerInnen/VegetarierInnen ersetzen manchmal Fleisch durch Fleischersatzprodukte, z. B. aus Soja oder Weizen, 35 % setzen eher auf alternative Proteinquellen wie Hülsenfrüchte [2, 3].

Interessant ist auch die angesichts der aktuellen Krise wichtig gewordene Frage der Bevorratung von Lebensmitteln. 33 % der Befragten kommen nach eigenen Angaben mit ihren Vorräten nur bis zu eine Woche aus, 37% bis zu 2 Wochen und das letzte knappe Drittel länger [2]. Das Bundesamt für Katastrophenschutz empfiehlt eine Bevorratung von mindestens 2 Wochen.

Viele Ergebnisse geben hingegen eher Absichtserklärungen und allgemeine oder sozial erwünschte Einstellungen der Befragten wieder, bei denen nicht belegt wird, ob sie sich auch in tatsächlichem Verhalten zeigen: So ist über 90 bzw. 80 % der Befragten beim Einkauf nach eigenen Angaben neben dem Geschmack der Gesundheitswert und die Regionalität der Produkte wichtig oder sehr wichtig. Hingegen achten eigener Aussage zufolge nur 46 % darauf, dass es preiswert ist. Die Hälfte der Befragten gibt an, beim Einkauf „immer“ oder „meistens“ auf das Biosiegel und das Siegel fairer Handel zu achten. Zum gleichen Anteil geben die Befragten an, diese auch „häufig“ oder „sehr häufig“ zu kaufen. 81 % halten ein staatliches Tierwohllabel für wichtig oder sehr wichtig, 83 % die Zutatenliste. Gefragt nach der landwirtschaftlichen Produktion geben sogar etwas mehr VerbraucherInnen an, dass ihnen eine artgerechte Tierhaltung wichtig ist als dass ihnen Qualität wichtig ist.

Der zumindest geäußerte Wunsch nach Regionalität und Tierwohl wird vom BÖLW (Bund ökologische Lebensmittelwirtschaft) in einer Pressemeldung zum Ernährungsreport aufgegriffen [5]: „Ein weiteres Jahr zeigen die Menschen Ernährungsministerin Klöckner, was sie wollen. Gesundes, umwelt- und tierfreundlich hergestelltes Essen ohne Gentechnik. Dafür sind die Deutschen bereit, weniger Fleisch zu essen und tiefer in die Tasche zu greifen. Bio bietet alle diese Vorteile in einem Paket, das kennen und schätzen die Menschen.“ Der BÖLW schlussfolgert, dass die Bundesregierung von den Deutschen „einen klaren Auftrag hat Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion enkeltauglich zu machen“ [5].

Der Bauernverband und das BMEL hingegen freuen sich über den Wunsch der VerbraucherInnen nach regionalen Produkten und die „starke Wertschätzung für die deutsche Landwirtschaft“ [6]: Die Wertschätzung für die deutsche Landwirtschaft ist während der Coronakrise bei ca. 40 % der Befragten gestiegen.

Kommentar: Ein mittlerweile jährliches Ritual: Das BMEL wie auch jeder Verband nutzen die Aussagen des Ernährungsreports jeder auf ihre Weise. Gerade Wünsche der VerbraucherInnen nach mehr Tierwohl werden jedoch im Regierungshandeln eher durch viel Wind um wenig Handeln im Nebel versenkt. Das sieht man schon allein daran, dass für den sog. Kastenstand, in dem Muttersauen eingezwängt die Zeit der Ferkelaufzucht im Liegen ohne Bewegungsmöglichkeit verbringen müssen, trotz Gesetzeswidrigkeit nun evtl. noch bis zu 10 Jahre Übergangszeit eingeräumt werden soll [7]. Auch von VerbraucherInnenseite ist der Wunsch nach mehr Tierwohl zu häufig Lippenbekenntnis. Wie viele VerbraucherInnen wohl schon gemerkt haben, dass Stufe 1 des zurzeit auf manchen tierischen Lebensmitteln angebrachten Labels „Haltungsform“ (freiwilliges Label aus der Ernährungsindustrie) heißt, dass sich im Stall in der Massentierhaltung gar nichts verändert und erst Stufe 2 eine leichte Verbesserung bringt [8]? Diese findet man merkwürdigerweise aber bisher nur höchst selten auf Produkten, geschweige denn die Stufen 3 und 4. Beim geplanten 3-stufigen staatlichen Tierwohllabel soll allerdings schon Stufe 1 eine geringe Verbesserung bedeuten, es befindet sich jedoch wohl noch einige Zeit in der Planung. In einer Studie der Universität Göttingen wiesen die WissenschaftlerInnen Anfang dieses Jahres mit Blick auf das Tierwohllabel darauf hin, dass es zwischen geäußerten Einstellungen und dem tatsächlichen Verhalten eine große Lücke gebe. Der Marktanteil von biologisch erzeugtem Fleisch aus artgerechter Haltung liegt demgemäß auch bei nur 1–2 % [9].

Zur Regionalität: Auch beim Einkauf von Fisch achten 35 % der Befragten eigener Aussage zufolge auf „regionale Herkunft“. Nicht erklärt wird, was regionale Herkunft bei (v.a. See-)Fisch aus allen Erdteilen bedeuten soll.

Für Oliver Huizinga von foodwatch ist der ganze Ernährungsreport vorwiegend eine „PR-Aktion“ [10]. Die schwachen, wenig neuen und im Report nie hinterfragten Ergebnisse zu den Einstellungen der Deutschen bezüglich Ernährung hinterlassen einen Eindruck von Verschwendung von Steuergeldern, um die eigene Politik zu rechtfertigen, in welche Richtung auch immer sie geht. Die Chance, die Aussagen der Befragten zu überprüfen, z. B. anhand der tatsächlichen Verkaufszahlen von artgerecht erzeugten bzw. fair gehandelten Produkten, wird vertan.

Darüber wie Deutschland in Wirklichkeit isst, erfahren wir im Ernährungsreport nichts, dazu müssen wir schon in den Ernährungsbericht der DGE oder die Nationale Verzehrstudie des MRI schauen.


Literatur:

1. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Deutschland wie es isst – Der BMEL-Ernährungsreport 2020. www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/ernaehrungsreport-2020.html (last accessed on 6 June 2020).

2. Ernährungsreport 2019/2020. www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ernaehrung/forsa-ernaehrungsreport-2020-tabellen.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (last accessed on 6 June 2020)

3. Ernährung in der Corona-Krise. www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ernaehrung/forsa-ernaehrungsreport-2020-tabellen-corona.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (last accessed on 6 June 2020)

4. Deutsche Gesellschaft für Ernährung: 14. DGE-Ernährungsbericht (Hinweis auf Vorveröffentlichungen). www.dge.de/wissenschaft/ernaehrungsberichte/14-dge-ernaehrungsbericht/ (last accessed on 6 June 2020).

5. Deutsche wollen Ernährungswende, Regierung muss handeln. BÖLW, Pressemeldung vom 29.05.2020. www.boelw.de/presse/meldungen/artikel/deutsche-wollen-ernaehrungswende-regierung-muss-handeln/ (last accessed on 6 June 2020).

6. Starke Wertschätzung für die heimische Landwirtschaft. Deutscher Bauernverband, Pressemeldung vom 29.05.2020. www.bauernverband.de/presse-medien/pressemitteilungen/pressemitteilung/starke-wertschaetzung-fuer-die-heimische-landwirtschaft (last accessed on 6 June 2020).

7. Kastenstand-Abstimmung im Bundesrat erneut verschoben. foodwatch, Pressemeldung vom 5.6.2020. www.foodwatch.org/de/aktuelle-nachrichten/2020/kastenstand-abstimmung-im-bundesrat-erneut-verschoben/ (last accessed on 6 June 2020).

8. Tierschutz: Kaum Tierwohl bisher durch Label „Haltungsform“. Ernährungs Umschau, Pressemeldung vom 11.12.2019. www.ernaehrungs-umschau.de/print-news/11-12-2019-kaum-tierwohl-bisher-durch-label-haltungsform/ (last accessed on 6 June 2020).

9. Einstellungen vs. Kaufverhalten: Tierschutz-Einstellungen und Kaufverhalten stimmen nicht überein. Ernährungs Umschau, Pressemeldung vom 11.03.2020. www.ernaehrungs-umschau.de/print-news/11-03-2020-tierschutz-einstellungen-und-kaufverhalten-stimmen-nicht-ueberein/ (last accessed on 6 June 2020).

10. SWR2 Tagesgespräch: Oliver Huizinga, Foodwatch e.V.: „Ernährungsreport ist reine PR-Strategie“. Sendung vom 29.05.2020, 7:07 Uhr. www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/oliver-huizinga-foodwatch-ev-ernaehrungreport-ist-reine-pr-strategie-100.html (last accessed on 6 June 2020).

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