Wort "Hype" aus Kirschen gelegt. © popovariel/iStock/Getty Images Plus
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Nachschlag: Über Aufstieg und Fall von Ernährungshypes

  • 09.05.2019
  • News
  • Helmut Heseker

Im „Nachschlag“ des aktuellen Heft 4 der ERNÄHRUNGS UMSCHAU vergleicht unser Herausgeber Prof. Helmut Heseker Ernährungshypes mit viralen Epidemien mit mathematisch vorhersehbarem Kurvenverlauf. Lesen Sie, wie er zu diesem treffenden Vergleich kommt:

„Hast du schon gehört“ ist so ein tagtäglich gezwitschertes Wort, wenn schon wieder ein Lebensmittel, ein neues Superfood, eine neue Diät oder gleich ein neuer Ernährungstrend den Weg in unsere Köpfe und auf den Markt suchen.

Aber damit die Masse – die Crowd – wirklich glaubt, dass etwas dran ist, sind heute wie gestern kühl-kalkuliertes Marketing und das ganze Repertoire der Massenpsychologie mit multimedialer Berieselung, Wiederholung einfacher, emotionaler Botschaften und ausdruckstarken Bildern erforderlich, damit ein neuer Trend geboren wird und die Kassen ordentlich klingeln.

Hat der Trend aber erst Fahrt aufgenommen und werden bei YouTube und anderen Social Media mit ihren Promis und InfluencerInnen Abermillionen-fache Klicks erreicht, dann wird dieser schnell zum Selbstläufer: findige BuchautorInnen, Publicity suchende WissenschaftlerInnen, Lifestyle-Magazine, der ganze bunte Blätterwald und natürlich die Lebensmittelkette – vom Acker bis auf den Teller – springen auf den Zug auf. Palm- und Kokosöl, Nicecream, Vitamin D und Insektenproteine werden gerade entsprechend promotet und gehypt.

Offenbar verlangen unser archaisches Rudelverhalten, die Schwarm-„Intelligenz“ oder womöglich auch unser genetisches Erbe, dem sicheren Mainstream zu folgen, denn Einzelgängerdasein mit Verlassen der menschlichen Horde war in grauer Vorzeit immer mit tödlichen Gefahren verbunden. Also machen bald alle mit – bis die Massenanziehungskraft und Faszination nachlassen, sich die Wachstumskurve abflacht und findige Schreiberlinge ihre bisher geübte Solidarität aufgeben und durch das Enttarnen des Ernährungshypes als „Diätlüge“ ein attraktiveres Geschäftsfeld wittern.

So ergeht es gerade den jahrelang gehypten Low-Carb-Diäten. Die langjährige Verteufelung der Kohlenhydrate wird von Trendsettern plötzlich als großer Irrtum entlarvt. Atkins-, South-Beach-, Hollywood-Star-, Mayo-, Logi- sowie Paleo-Diäten – Evolution hin und Harvard her – werden nicht nur als wirkungslos entlarvt, schlimmer noch: Stattdessen werden lange übersehene oder geleugnete Nebenwirkungen (u. a. Mundgeruch, Muskelkrämpfe, Übelkeit und Kopfschmerzen) in den Vordergrund gerückt. Warten wir ab, ob die Crowd dieser Kehrtwende willig folgt oder ob die immer noch aktiven Low-Carb-Protagonisten einen Weg finden, den Fall aufzuhalten und den Ernährungstrend zu retten.

Im Prinzip stellen Ernährungshypes virale Phänomene dar, mit mathematisch definierbarem Kurvenverlauf: Erst haben nur wenige eine Infektion, dann kommt es zu einem steilen Anstieg und irgendwann ist noch jede Epidemie wieder in sich zusammengebrochen ... und vorbei war der Spuk.

Manchmal brauchen wir einfach etwas mehr Ruhe und Gelassenheit, mehr innere Souveränität, um nicht auf jeden Zug aufzuspringen. Zum Glück ist ein Leben außerhalb des Rudels heute weniger gefährlich.

Ihr Helmut Heseker

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