Kinderernährung im Fokus von Wissenschaft und Wirtschaft – Fortschritt durch Kommunikation und Translation

  • 13.10.2010
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  • Redaktion

Verhältnisprävention als Chance

Die Schaffung eines gesundheitsförderlichen Umfelds gilt heute als wesentliche Voraussetzung für eine effektive Gesundheitsförderung und primäre Prävention . Mit dieser sogenannten ‚Verhältnisprävention’ wird die große Masse der Bevölkerung eher erreicht als allein mit der klassischen ‚Verhaltensprävention’ durch Wissensvermittlung und Appelle an das Individuum.

Dies trifft besonders für sogenannte bildungsferne Bevölkerungsgruppen zu und generell für Kinder, für die rationale Argumente für ein präventives Gesundheitsverhalten noch nicht einsichtig sind (2). Bei der Ernährung bedeutet Verhältnisprävention, den Zugang zu gesunden Nahrungsangeboten zu erleichtern.

Der Lebensmittelmarkt für Kinder

Die Ernährungspraxis bei Kindern wird zunehmend durch industriell hergestellte Fertigprodukte geprägt, beginnend bereits bei der Säuglingsernährung. Wie die DONALD Studie (Dortmund Nutritional and Anthropometric Longitudinally Designed Study) des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund (FKE) zeigt, erhält ein Großteil der Säuglinge noch im Alter von 12 Monaten die Gemüse-Kartoffel-Fleisch-Mahlzeit als industriell gefertigte Gläschenkost. Bei Kindern sind Convenience-Produkte, wie Tiefkühl-Pizza und Tütensuppe, fester Bestandteil der Familienernährung (3).

Die Lebensmittel- und Nährstoffdatenbank LEBTAB des FKE, in der seit 1985 alle von Studienprobanden verzehrten Lebensmittel im einzelnen dokumentiert werden, ist gleichzeitig ein Abbild des Lebensmittelmarktes für Kinder und seiner Dynamik: von den derzeit 12 300 Einträgen sind 85 % kommerziell hergestellte Produkte, davon ein Viertel Säuglings- und Kleinkindernahrung. In den letzten 3 Jahren (2007-2009) kamen pro Jahr ca. 1000 Produkte neu hinzu.

Auch in der Gemeinschaftsverpflegung in Kindertagesstätten und Schulen wird die klassische Frischzubereitung der Speisen vor Ort zunehmend ergänzt oder ersetzt durch vorgefertigte (tief)gekühlte Speisen oder fertige Menüs. Ein gutes Drittel der 8733 Ganztagsschulen in Deutschland wurde im Jahr 2008 schon auf diese Weise versorgt (4).

Die Einbindung der Ernährungswirtschaft vom Einzelhandel bis hin zur Gemeinschaftsverpflegung erscheint daher als vielversprechender Weg, um die Ernährungspraxis bei Kindern und ihren Familien nachhaltig positiv zu beeinflussen.

Forschungsbeiträge zur Produktentwicklung

Vor diesem Hintergrund hat das FKE sein Forschungsspektrum inhaltlich und strukturell erweitert. Ausgehend von der Grundlagenforschung im Rahmen der DONALD Studie und anwendungsorientierten Evaluations- und Interventionsstudien wurde der Wissenstransfer in die Ernährungspraxis zu einem neuen Schwerpunkt ausgebaut: Neben der klassischen Wissensvermittlung an Endverbraucher über den FKE-Medienvertrieb (Verhaltensprävention) kam der Wissenstranfer an die Ernährungswirtschaft hinzu. Forschungserkenntnisse, z. B. aus der DONALD Studie, werden damit unmittelbar für die Entwicklung gesunder Nahrungsprodukte nutzbar (Verhältnisprävention).

Adressat für diesen Wissenstransfer ist die Ernährungswirtschaft im weitesten Sinne, angefangen von Essenslieferanten für Schulen und Kindertagesstätten über Verbände bis hin zum Lebensmittelhandwerk und Anbietern von Kinderprodukten oder Babynahrung. Zur formalen Erleichterung der Kooperation mit der Wirtschaft wurde im Jahr 2008 das „Forschungsinstitut für Kinderernährung GmbH Dortmund“ gegründet (5).

Die evaluierten Präventionskonzepte des FKE, der ‚Ernährungsplan für das 1. Lebensjahr’ und die ‚Optimierte Mischkost’ für Kinder und Jugendliche, die Standards in der Ernährungsberatung in Deutschland sind, können als Referenz für die Produktentwicklung in Zusammenarbeit mit Firmen eingesetzt werden (6). Da diese Empfehlungen im Sinne von Public Health Standards praxisnah in Form von Lebensmitteln und Mahlzeiten formuliert sind, lassen sie sich direkt als Messlatte für ‚optimierte’ Rezepturen oder ‚optimierte’ Mahlzeiten anwenden.

Ein Beispiel sind die evaluierten FKE-Rezepte für das Mittagessen in Schulen. Ernährungsphysiologisch an der warmen Mahlzeit der Optimierten Mischkost ausgerichtet, wurden diese Rezepte einem bundesweiten Praxistest in Schulen unterzogen und erhielten dabei auch gute Geschmacksnoten von den Schülern (in Zusammenarbeit mit der Nestle Deutschland AG). Diese ‚optimierten’ Rezepte sind jetzt in einem Sammelordner, z. B. für Essensanbieter und Schulträger allgemein verfügbar (7).

Unterstützung durch ein effektives Marketing

Allein eine optimierte Rezeptur bietet aber noch keine Gewähr dafür, dass sich ein solches Produkt auch am Markt durchsetzt. Gerade für Kinder ist der Geschmack entscheidend für die Akzeptanz (2). Darüber hinaus zeigt die Kreativität der Lebensmittelwerbung, wie wichtig das Marketing als Kauf- und Konsumanreiz für Kinder und Eltern ist.

Erfahrungen aus der trinkfit-Studie des FKE gehen in die gleiche Richtung. In dieser kontrollierten Interventionsstudie gelang es, den Trinkwasserkonsum von Kindern in Grundschulen signifikant und nachhaltig zu steigern, indem in den Schulen frei zugängliche Wasserspender aufgestellt wurden. Attraktive ‚trinkfit’-Trinkflaschen machten das Trinken für die Kinder zusätzlich interessant (8).

Jetzt gilt es, diese Erkenntnisse in den Lebensmittelmarkt mit all seiner Vielfalt zu übertragen. Das FKE setzt dabei unter anderem auf die Marke optimiX®* als positiv besetzte, simple Botschaft für die Inhalte der Optimierten Mischkost. Das optimiX®-Gütesiegel kennzeichnet Mahlzeiten und Produkte, die den Kriterien der Optimierten Mischkost entsprechen, ohne dass Eltern sich z. B. mit den Details der komplexen Nährwertkennzeichnung beschäftigen müssen, wenn sie ein Produkt auf seine Eignung für die Kinderernährung prüfen möchten.

Das optimiX® Gütesiegel wird bereits vielfältig eingesetzt:

  • bei Menüs für das Mittagessen in Schulen, die von den Firmen apetito RVS GmbH und frischdienst Union GmbH angeboten werden,
  • bei einem Rezept für ein Haferfrühstück, das vom Getreidenährmittelverband e. V. vermarktet wird,
  • bei optimierten Zwischenmahlzeiten, die neben Vollkornbrötchen, Apfel und einem Glas Wasser auch einen FruchtZwerg der Danone GmbH enthalten – zugleich ein Beispiel dafür, dass Produkte, die trotz verbesserter Rezepturen für sich allein die optimiX®-Kriterien nicht erreichen, bei geschickter Ergänzung jedoch in die Optimierte Mischkost integriert werden können.

Für die Säuglingsernährung steht die Entwicklung entsprechender Kommunikationsstrategien noch aus. Bis dahin kann das ‚FKE’ als solches als Empfehler fungieren, z. B. wenn in Beikost-Menüs die vom FKE empfohlene Zugabe von Rapsöl realisiert wird (Hipp GmbH & Co Vertrieb KG).

Previkids NRW – das Modellvorhaben

Ob diese neue Strategie des Wissenstransfers tatsächlich in der Wirtschaft ankommt und dann auch die Kinder und Familien als Konsumenten erreicht, wird in dem Projekt Previkids NRW erforscht. Previkids NRW steht für ‚Präventionsernährung für Kinder in NRW’. Das Vorhaben hat sich im Wettbewerb "Med in.NRW" durchgesetzt und wird vom Land NRW und der Europäischen Union im Zeitraum 2009-2012 gefördert. In diesem Verbundprojekt, das von der FKE GmbH koordiniert wird, arbeiten das FKE und Forschungspartner der TU Dortmund (Lehrstuhl für Marketing, Fach Biologie und ihre Didaktik) mit 9 Unternehmen der Ernährungswirtschaft und Einrichtungen des Gesundheitswesens zusammen (9).

Ziel ist es, in Zusammenarbeit mit Nahrungsmittelproduzenten optimierte Produkte für Kinder zu entwickeln und mit Unterstützung durch ein wirkungsvolles Marketing in der Familienernährung und der Gemeinschaftsverpflegung einzuführen. Wirkungsvoll bedeutet hier, Kauf- und Konsumanreize bei Eltern, Betreuern und Kindern zu schaffen und dadurch die Lebensmittelauswahl im präventiven Sinne zu verbessern. Vor allem über die Gemeinschaftsverpflegung sollen Kinder aller sozialen Schichten im Sinne der Verhältnisprävention niederschwellig erreicht werden. Außerdem wird untersucht, inwieweit ein flankierender Ernährungsunterricht (Verhaltensprävention) die Akzeptanz der optimiX®-Mahlzeiten bei den Kindern steigern kann.

Im Sinne eines Monitoring am Modellstandort Dortmund wird anhand der laufenden Ernährungserhebungen der DONALD Studie das tatsächliche Eindringen der optimierten Produkte in den Ernährungsalltag von Kindern geprüft. Parallel wird in dem ambulanten Adipositas-Schulungsprogramm Obeldicks der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln dokumentiert, inwieweit auch adipöse Kinder und ihre Familien die optimierten Produkte wahrnehmen.

Fortschritt durch Kommunikation

Das hier vorgestellte Konzept einer verstärkten Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft mag auf den ersten Blick als ein Paradigmenwechsel im Bereich der Kinderernährung in Deutschland erscheinen - und ist nicht unumstritten (10).

In der Diskussion dieses neuen Konzepts ist aber zu bedenken, dass der bisherige oftmals konfrontative Diskurs zwischen (Ernährungs-)Wissenschaft und Verbraucherschutz auf der einen und Ernährungswirtschaft auf der anderen Seite, z. B. beim Thema ‚Kinderlebensmittel’, nicht zu einer im Sinne der Prävention positiven Entwicklung der Ernährungsgewohnheiten bei Kindern geführt hat. Zur effektiven Umsetzung von Fortschritten in der Kinderernährung sind unverändert gemeinsame Anstrengungen, in einzelnen Konzepten aber auch neue Ansätze erforderlich.

Wir halten daran fest, dass die Zielvorgaben der Kinderernährung („optimale Ernährung“) wie bisher streng wissenschaftlich (puristisch) ermittelt und begründet werden. Im Bemühen, diese wissenschaftlich definierten Zielvorgaben effektiver als bisher in die Realität der Kinderernährung zu transferieren, erscheint der Weg einer stufenweisen „Optimierung“ von Produkten zielführend.

Unter diesen Prämissen kann es also sinnvoll sein, in einzelnen Punkten vorübergehend wohlüberlegte Kompromisse zu erzielen. In einer verbesserten Kommunikation mit den Herstellern sollten wir die Bemühungen der Nahrungsmittelproduzenten um eine Optimierung einzelner Produkte durchaus anerkennen und z. B. strittige, aber als Verkaufsschlager bekannte Produkte nicht von vornherein verurteilen. Vielmehr sollten wir für Hersteller und für Nutzer Wege aufzeigen, wie auch nicht optimale Produkte bestmöglich in eine gesunde Kinderernährung integriert werden können.

Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft ist auch im Bereich der Kinderernährung nicht gleichzusetzen mit einem Verlust der Unabhängigkeit der Wissenschaft, solange die wissenschaftliche Wahrheit nicht verfälscht wird und jedem Unternehmen eine Zusammenarbeit offen steht. Eine verstärkte Zusammenarbeit von Forschung und Wirtschaft ist im Sinne der Translation heute sogar eine wesentliche Voraussetzung für die Forschungsförderung, wie das Beispiel von Ausschreibungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Bereich der Ernährungsforschung der letzten Jahre verdeutlicht.

Bei einer derartigen Zusammenarbeit müssen allerdings die möglichen Vorteile für den Public Health Bereich auf der einen Seite und für die Unternehmen auf der anderen Seite sorgfältig abgewogen werden und es muss ein klarer Nutzen zugunsten der Allgemeinheit erkennbar sein (11).

Optimiert statt optimal

Die Ernährungspraxis der meisten Kinder weicht nach wie vor erheblich von den Präventionsempfehlungen ab (12). Aus der Konsumentenforschung und aus Machbarkeitsstudien des FKE ist bekannt, dass gesündere Nahrungsprodukte bei Kindern eher akzeptiert werden, wenn sie Schritt für Schritt eingeführt und attraktiv angeboten und vermarktet werden (13). Dabei kann und braucht es nicht das Ziel sein, die bestehenden Ernährungsempfehlungen kurzfristig 1:1 umzusetzen. Selbst interessierte und bestens informierte Eltern oder Einrichtungen, wie Kitas oder Schulen, würden an einem solch ambitionierten Ziel scheitern.

Auch kleine Schritte einer Optimierung sind schon ein Erfolg. Das hier vorgestellte Konzept einer zukünftigen Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft kann diese Schritte ermöglichen und den Weg zu einer präventiven Verbesserung der Kinderernährung bahnen.

Prof. Dr. Mathilde Kersting, Prof. Dr. Michael J. Lentze
Forschungsinstitut für Kinderernährung
Heinstück 11
44225 Dortmund
E-Mail: kersting@fke-do.de

Literatur

1. Flynn MA, McNeil DA, Maloff B, Mutasinga D, Wu M, Ford C, Tough SC (2006) Reducing obesity and related chronic disease risk in children and youth: a synthesis of evidence with ‘best practice’ recommendations. Obes Rev 2006; 7 Suppl 1: 7-66

2. Ellrott T. Die Entwicklung des Essverhaltens im Kindes- und Jugendalter. In: Kersting M (Hrsg). Kinderernährung aktuell. Umschau Zeitschriftenverlag, Sulzbach, 2009; pp 66-77

3. Alexy U, Sichert-Hellert W, Rode T, Kersting M (2007) Convenience Food in der Ernährung von Kindern. Ernährung 1: 396-401

4. Arens-Azevedo U, Laberenz H (2008) Strukturanalyse Schulverpflegung - Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse. CMA, Bonn.

5. www.fke-do.de

6. Alexy U. Die Ernährung gesunder Kinder und Jugendlicher nach dem Konzept der Optimierten Mischkost. In: Kersting M (Hrsg). Kinderernährung aktuell. Umschau Zeitschriftenverlag, Sulzbach, 2009; pp 29-39

7. Clausen K, Kersting M (2007) Optimierte Mischkost im Praxistest bei Schülern. Die Ganztagsschule 47: 33-45

8. Muckelbauer R, Libuda L, Clausen K, Toschke A M, Reinehr T, Kersting M (2009) Promotion and provision of drinking water in schools for overweight prevention: randomized, controlled cluster trial. Pediatrics 123:e661-7

9. www.previkids.de

10. VZ-NRW/UGB: FKE nicht mehr unabhängig. UGB-Forum: 1/10:4

11. Editorial. School dinners: a healthy choice? The Lancet (2010) 376: 69

12. Mensink GBM, Richter A, Stahl A, Vohmann C, Heseker H. Bestandsaufnahme: Nährstoffversorgung und Lebensmittelverzehr von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. In: Kersting M (Hrsg). Kinderernährung aktuell. Umschau Zeitschriftenverlag, Sulzbach, 2009; pp 40-64

13. Clausen K, Rumpold N, Kersting M, Wahrburg U (2006) Optimierte Mischkost in Ganztagsgrundschulen – Ernährungsphysiologische und sensorische Prüfung. Hauswirtschaft und Wissenschaft 3: 135-140

 

*optimiX® ist eine europaweit eingetragene Marke des Forschungsinstituts für Kinderernährung

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