Kabel und Maßband
Die Gesellschaft ist sich nicht im Klaren, ob „Übergewicht“ tatsächlich ein Problem ist, das „bekämpft“ werden muss. © mnbb / iStock / Thinkstock

Kommentar: „Ach du dicker Tsunami!“

  • 18.08.2016
  • News
  • Dr. Sabine Schmidt

Auf der letzten Seite jeder Ausgabe der ERNÄHRUNGS UMSCHAU ist ein Platz für unseren Kommentar „Zu guter Letzt" reserviert. Dr. Sabine Schmidt nimmt sich im August die Rolle der Politik und die gesellschaftliche Unklarheit in puncto Übergewicht und Adipositas vor.

Portrait von Dr. Sabine Schmidt.
Dr. Sabine Schmidt ist seit Oktober 2006 Mitglied der Redaktion. © privat

Warum tun deutsche Politiker nicht genug zur Verhältnisprävention, dem neuen Zauberwort zur Bekämpfung der Adipositas? Warum hören sie nicht auf die Gesundheitsökonomen, die vorrechnen, dass Übergewicht die Deutschen jährlich bis zu 30 Milliarden Euro kostet? (Alkoholmissbrauch allerdings noch 30 Prozent mehr). Maßnahmen wie die verpflichtende Einführung der verfügbaren Qualitätsstandards in der Gemeinschaftsverpflegung oder ein Werbeverbot für sogenannte Kinderlebensmittel wären gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und müssten nur beschlossen werden. Alles aber hängt stets vom persönlichen Engagement einzelner Politiker ab. Warum?

Eine naheliegende Idee ist, dass die Entscheidungsträger selbst genussfreudig oder konfliktbeladen, dick oder dünn, Raucher und Nichtraucher sind. Die Einmischung in die Privatsphäre, zu der das Essen genauso gehört wie (riskante) Hobbys, die Wahl einer (überfordernden) Arbeitsstelle oder (unglückliche) Liebesbeziehungen, wird aber von den meisten im Innersten abgelehnt. Ein Werbeverbot für Süßigkeiten? Ja. Ein Verbot von Süßigkeiten? Nein. Diese Ablehnung eines von außen aufgedrückten Verhaltensdiktats ist menschlich und schützenswert. Dies fühlen auch Politiker und zögern.

Wer definiert eigentlich, was „normal“ ist?

Ein zweiter Grund könnte sein, dass die Elite der Gesundheitswissenschaftler zwar denkt, ihr Gesundheitsfokus sei richtig und logisch, die Bevölkerung diese Meinung aber nicht zwangsläufig teilt. Gesundheit ist nur ein Motiv unter vielen und meist erst dann ein Primärbedürfnis, wenn sie abhandenkommt. Anhaltend gibt es soziologische, pädagogische und psychologische Forschung, die Sturm läuft gegen das „Diktat“ der Gesundheit, es u. a. als unser protestantisches Erbe bezeichnet – die Moral von der Mäßigung. Das leuchtet ein, denn Normen zur Festlegung von Gewichtsgrenzen wurden auch aus ökonomischem Kalkül gesetzt. Schon seit Jahren ist bekannt, dass Übergewicht (BMI 25–29,9) allein (im Gegensatz zu Adipositas) nicht grundsätzlich einen schlechteren Gesundheitszustand verursacht1. Wer definiert also eigentlich, was „normal“ und ob Übergewicht als Begleiterscheinung unseres komfortablen Lebens „unnormal“ ist?

Also konzentrieren wir uns auf schwer Übergewichtige, weil diese häufiger krank und weniger leistungsfähig sind. Aber auch hier: Die Menschen sind auch aus ganz anderen Gründen mehr oder weniger häufig krank und mehr oder weniger leistungsfähig. Für Faktoren sozialer Ungleichheit ist dies seit Jahren belegt. Warum regen wir uns dann nicht viel mehr über soziale Ungleichheit auf und bekämpfen vorrangig diese? Ist es uns wirklich mehr Wert, Menschen „normalgewichtig“ zu machen, als die Unterschiede zwischen Reichen und Armen zu verringern?

Es fällt auf: Die Gesellschaft ist sich überhaupt nicht im Klaren, ob das „Übergewicht“ tatsächlich ein Problem ist, das „bekämpft“ werden muss, und inwieweit sich „der Tsunami“ der Adipositas eigentlich bekämpfen lässt (ein furchtbarer Vergleich, der trotzdem oft gebraucht wird). Diese offenen Fragen müssen geklärt werden, noch vor der wirklich wichtigen Diskussion, wie wir die Politik dazu bewegen können, verhältnisgestaltende Maßnahmen zum Nutzen aller Bürger-/innen als selbstverständlichen Wert deutscher Politik durchzusetzen.

Dr. Sabine Schmidt



1 Lenz M et al. (2009) Morbidität und Mortalität bei Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter. Eine systematische Übersicht. Dtsch Arztebl Int 106(40): 641–648

 

 

Ein zweiter Grund könnte sein, dass die Elite der Gesundheitswissenschaftler zwar denkt, ihr Gesundheitsfokus sei richtig und logisch, die Bevölkerung diese Meinung aber nicht zwangsläufig teilt. Gesundheit ist nur ein Motiv unter vielen und meist erst dann ein Primärbedürfnis, wenn sie abhandenkommt. Anhaltend gibt es soziologische, pädagogische und psychologische Forschung, die Sturm läuft gegen das „Diktat“ der Gesundheit, es unter anderem als unser protestantisches Erbe bezeichnet – die Moral von der Mäßigung. Das leuchtet ein, denn Normen zur Festlegung von Gewichtsgrenzen wurden auch aus ökonomischem Kalkül gesetzt. Schon seit Jahren ist bekannt, dass Übergewicht (BMI 25–29,9) allein (im Gegensatz zu Adipositas) nicht grundsätzlich einen schlechteren Gesundheitszustand verursacht1. Wer definiert also eigentlich, was „normal“ und ob Übergewicht als Begleiterscheinung unseres komfortablen Lebens „unnormal“ ist? Also konzentrieren wir uns auf schwer Übergewichtige, weil diese häufi ger krank und weniger leistungsfähig sind. Aber auch hier: Die Menschen sind auch aus ganz anderen Gründen mehr oder weniger häufi g krank und mehr oder weniger leistungsfähig. Für Faktoren sozialer Ungleichheit ist dies seit Jahren belegt. Warum regen wir uns dann nicht viel mehr über soziale Ungleichheit auf und bekämpfen vorrangig diese? Ist es uns wirklich mehr Wert, Menschen „normalgewichtig“ zu machen, als die Unterschiede zwischen Reichen und Armen zu verringern?

Es fällt auf: Die Gesellschaft ist sich überhaupt nicht im Klaren, ob das „Übergewicht“ tatsächlich ein Problem ist, das „bekämpft“ werden muss, und inwieweit sich „der Tsunami“ der Adipositas eigentlich bekämpfen lässt (ein furchtbarer Vergleich, der trotzdem oft gebraucht wird). Diese offenen Fragen müssen geklärt werden, noch vor der wirklich wichtigen Diskussion, wie wir die Politik dazu bewegen können, verhältnisgestaltende Maßnahmen zum Nutzen aller Bürger-/innen als selbstverständlichen Wert deutscher Politik durchzusetzen.

Dr. Sabine Schmidt

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