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Bunt und süß: Viele Lebensmittel, die speziell an Kinder vermarktet werden, sind nicht ausgewogen. © tatyana_tomsickova / iStock / Thinkstock

Marketing für Kinderlebensmittel: Viel Kritik für freiwillige Selbstbeschränkung der Industrie

  • 27.08.2015
  • News
  • Redaktion
  • Sabine Schmidt

Trotz der seit 2007 bestehenden freiwilligen Selbstbeschränkung der Lebensmittelindustrie bewerben die Hersteller in Deutschland weiterhin fast ausschließlich ungesunde Produkte gezielt an Kinder. Das legt eine Studie der Verbraucherorganisation foodwatch nahe, die gemeinsam mit der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG), der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe am 24. August vorstellt wurde. Für die Studie hat foodwatch alle an Kinder vermarkteten Produkte jener Hersteller unter die Lupe genommen, die die freiwillige Selbstbeschränkung unterzeichnet haben.

Laut der foodwatch-Studie sind 90 Prozent der insgesamt 281 untersuchten Produkte keine ausgewogenen Kinderlebensmittel nach den Anforderungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). „Die sogenannte Selbstverpflichtung der Lebensmittelindustrie für die Kinderlebensmittelwerbung ist eine Mogelpackung und täuscht den Verbraucher. Die meisten 'Kinderlebensmittel' sind keine Lebensmittel, sondern schlichtweg Süßigkeiten", sagte Dr. Dietrich Garlichs, Geschäftsführer der Deutschen Diabetes Gesellschaft.

Marketing für Kinderlebensmittel müsse per Gesetz eingedämmt werden, sonst könne die Welle der Fehlernährung und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen nicht gestoppt werden.

Freiwillige Selbstverpflichtung vs. WHO Nährstoff-Profiling
© Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG)
Dr. Dietrich Garlichs spricht sich für gesetzliche Regelungen beim Marketing für Kinderlebensmittel aus. © DDG

Im Rahmen einer Initiative der Europäischen Union sicherten zahlreiche Lebensmittelunternehmen bereits 2007 in einer Selbstverpflichtung (dem so genannten „EU-Pledge“ – www.eu-pledge.eu) zu, Regeln für an Kinder gerichtetes Marketing einzuhalten. Unter dem Motto We will change our food advertising to children sollten nur noch Lebensmittel, die bestimmte Nährwertanforderungen erfüllen, an Kinder unter zwölf Jahren beworben werden.

Das WHO-Regionalbüro für Europa hat nun Anfang 2015 neuere Vorgaben dafür definiert, welche Produkte für eine Vermarktung an Kinder freigegeben sein sollten und welche nicht. Dafür wird das nutrient profile model eingesetzt. Das so genannte Nährstoff-Profiling grenzt Lebensmittel und Getränke, die eher zu einer gesunden Ernährungsweise gehören, von solchen ab, die eher zu einem Überkonsum von Kalorien, gesättigten Fetten, Transfetten, Zucker oder Salz führen. Es wurde entwickelt, um durch eine Kategorisierung von Lebensmitteln das Marketing an Kinder einschränken zu können [1].

Die Vorgaben des WHO Nährstoff-Profilings sind strenger als die des „EU-Pledge“ – letztere werden von den Fachgesellschaften z. T. als zu niedrig angesehen, unter anderem aus folgenden Gründen:

  • Bestimmte Warengruppen wie Speiseeis und Fruchtsäfte sind im EU-Pledge von der Marketingbeschränkung ausgenommen, bei der WHO gehören sie dagegen zu den Lebensmittelgruppen, die überhaupt nicht beworben werden sollten.
  • In einigen der zum Marketing zugelassenen Lebensmitteln sind im EU-Pledge höhere Zucker-, Salz- und Energiegehalte erlaubt (z. B. 30 g Zucker/100 g bei Frühstücksflocken im Vergleich zu 15 g/100 g bei den WHO/Europa-Vorgaben).
  • Marketinginstrumente wie Comicfiguren auf Verpackungen sind im EU-Pledge von der Beschränkung ausgenommen.
  • Süßstoffe in Getränken sind im EU-Pledge erlaubt, bei den WHO-Vorgaben sollen gesüßte Getränke überhaupt nicht an Kinder vermarktet werden [1, 2]. 
90 Prozent der untersuchten Lebensmittel nicht an Kinder vermarkten

foodwatch wollte nun in seiner Studie überprüfen, ob die Selbstverpflichtungserklärung nach dem EU-Pledge dazu geführt hat, dass nur noch ausgewogene Lebensmittel nach WHO-Vorgaben an Kinder vermarktet werden. Dazu wurde das Marketing der EU-Pledge-Unterzeichnerfirmen in Deutschland untersucht: Die Nährstoffzusammensetzung aller Produkte, die sich in Marketing oder Werbung direkt an Kinder richten, wurde mit den Anforderungen der Weltgesundheitsorganisation von 2015 an ernährungsphysiologisch ausgewogene Lebensmittel abgeglichen.

Das Ergebnis: Von insgesamt 281 Produkten im Test erfüllen nur 29 die WHO-Kriterien. 90 Prozent (252) der Lebensmittel sollten nach Meinung der Gesundheitsexperten nicht an Kinder vermarktet werden.

Kommentar der Redaktion

Inwieweit die Firmen die freiwillige Selbstverpflichtung eingehalten haben, wird durch die Ergebnisse der foodwatch-Studie nicht klar, weil die Nährstoffgehalte mit den strengeren WHO-Vorgaben verglichen wurden. Offengelegt wird jedoch, dass fast alle gezielt für Kinder beworbenen Lebensmittel zur Gruppe derer gehören, die eher zu einem Überkonsum von Energie, Fett, Zucker etc. führen – eine im Sinne der Gesundheitsförderung ungünstige Sachlage, die von den Herausgebern der Studie zu Recht kritisiert wird.

Trotzdem wurde hier die Chance verpasst, auch die kleinen Schritte in die richtige Richtung, die einige Hersteller evtl. geleistet haben, einmal aufzuzeigen. Vielleicht ist es aber auch notwendig, die Sachverhalte überspitzt anzuprangern, um den Gesetzgeber dazu zu bewegen, etwas so Einfaches wie ein Verbot von sich an Kinder richtendes Marketing für Süßigkeiten und Übergewicht fördernde Lebensmittel durchzusetzen.

scs



Weitere Informationen und Quellen

Gemeinsame Pressemitteilung von Deutscher Adipositas Gesellschaft, Deutscher Diabetes Gesellschaft, diabetesDE - Deutsche Diabetes Hilfe und foodwatch vom 24.08.2015

Literatur:
1. Deutsche Adipositas-Gesellschaft, Deutsche Diabetes Gesellschaft, DiabetesDE Deutsche Diabeteshilfe (Hg). Hintergrundinformation: „Nährstoff-Profiling“: Neue Methode der WHO Europa entlarvt ungesunde Produkte, Verbot von Kinderwerbung soll Kinder vor Übergewicht schützen. (Zugriff 26.08.2015)

2. foodwatch e. V. / foodwatch-Studie Kindermarketing für Lebensmittel. Freiwillige Selbstverpflichtung der Lebensmittelwirtschaft („EU Pledge“) auf dem Prüfstand. (Zugriff 26.08.2015) 

foodwatch-Studie

Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG)

diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe

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