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Im Vordergrund des Moduls „Ernährung“ steht die spielerische und praktische Auseinandersetzung mit dem Thema Essen und Trinken. © ASC Göttingen

Best Practice: Projekt „fit für PISA Plus“ macht Kindern Lust auf gute Ernährung und Bewegung

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Praktische Kocheinheiten führen zu positiven Esserlebnissen. © ASC Göttingen

Und wie versuchen Sie die Nachhaltigkeit dieser Maßnahmen zu gewährleisten?

Hesse-Noll: Die Kinder bekommen für alle zubereiteten Snacks und Gerichte die Rezepte mit nach Hause, um sie dort mit ihren Eltern nach zu kochen. Durch eine immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit der Thematik während der Grundschulzeit soll eine langfristige Verhaltensänderung erzielt werden.

Was beinhaltet das dritte Modul „Patenarzt“?

Hesse-Noll: Im Modul „Patenarzt“ übernimmt ein Arzt ehrenamtlich die Patenschaft für eine Klasse. Die Ärzte kommen aus unterschiedlichen Fachbereichen und sind unter anderem Kinderärzte, Sportmediziner, Gynäkologen oder Allgemeinmediziner. Jeder Arzt besucht zwei Mal pro Schulhalbjahr die Kinder in der Schule und bespricht Themen wie „Der menschliche Körper“ und „Beim Arzt“.

Außerdem bietet der Patenarzt ein bis zwei Elternabende gemeinsam mit den Lehrern an. Der Arzt fungiert somit als Ratgeber für die Kinder, Lehrer und Eltern in Gesundheitsfragen und soll auf individuelle Wünsche und Themen, die in den jeweiligen Klassen von Interesse sind, eingehen. Das Projektorganisationsteam vermittelt jeder Klasse einen Arzt, unterstützt die Kommunikation und stellt Materialien zur Verfügung.


Was ist Ihr Eindruck, welche positiven Effekte ziehen die Schüler noch aus dem Projekt?

Hesse-Noll: Durch die zusätzlichen Sport und Bewegungsstunden sind die Kinder meiner Erfahrung nach ausgeglichener, aufmerksamer und konzentrierter in der Schule. Besonders an sehr langen Tagen mit Ganztagsangeboten benötigen Kinder Raum für ihren natürlichen Bewegungsdrang.

Die gemeinsamen Esserlebnisse und positiv besetzten Erfahrungen, vor allem aus den praktischen Kocheinheiten, sorgen dafür, dass die Kinder vieles auch zu Hause ausprobieren und offener für Neues sind. Zusätzlich erhalten alle Kinder einen Projektordner, der über die vier Jahre mit vielen Inhalten gefüllt wird. Eine Kochschürze gibt es für die praktischen Ernährungseinheiten und bei der Teilnahme an sportlichen Aktivitäten locken als kleine Belohnung T-Shirts, Urkunden und Medaillen. Der Besuch von externen Projektpartnern, der Besuch von Ausstellungen außerhalb der Schule und die Teilnahme an Sportfesten und Volksläufen bringen zusätzliche Abwechslung in den Schulalltag und stellen Highlights für die Kinder da.

Außerdem besteht in keinem der genannten Module ein Leistungsdruck, es werden keine Leistungsüberprüfungen durchgeführt oder Noten vergeben. Der Spaß steht im Vordergrund.

Welche Hürden musste das Projekt in den letzten Jahren nehmen, wo gab es Schwierigkeiten?

Hesse-Noll: Das Projekt stößt leider mit der Steigerung der Teilnehmer an Grenzen und Möglichkeiten des ehrenamtlichen Engagements. Durch die zusätzlichen Sportangebote in der Schule sind etwa die Turnhallen- und Bewegungsraumkapazitäten nahezu erschöpft. Die Implementierung der zusätzlichen Sport- und Bewegungseinheiten stellt in den beiden ersten Schuljahren keine Schwierigkeit dar.

Dies gelang bisher über die sogenannten Verfügungsstunden oder eine verlässliche Betreuungszeit bis 13 Uhr, die jedoch flexibel über den Tag verteilt werden kann. Das ist ab Klassenstufe drei nicht mehr möglich, da die Lehrstunden den gesamten Stundenplan ausfüllen. Sport laut Rahmenlehrplan wird mit zwei Schulstunden erteilt. Darüber hinaus ist es sehr schwierig, zusätzliche Stunden als Sportangebote umzufunktionieren. 

Welche Möglichkeiten gibt es hier?

Hesse-Noll: Eine Möglichkeit ist die Bildung einer sogenannten Sportklasse. Die zusätzlichen Sportstunden, die am Vormittag keinen Platz mehr finden, werden ab der dritten Klasse nach einer Mittagspause in der siebten Stunde durchgeführt. Für individuelle Lösungen gibt es jeweils Gespräche zwischen Schulleitung und Projektorganisationsteam.

Wird das Projekt evaluiert?

Hesse-Noll: Ja, das Projekt wird durch Befragungen von Lehrenden und Ärzten im Rahmen einer Prozessevaluation ausgewertett. Die Ärzte werden durch regelmäßige Treffen und die Mitgestaltung und Ausarbeitung der Themen für die Kinder, Eltern und Lehrer einbezogen. Weiter findet ein jährliches Treffen aller Projektbeteiligten wie Projektteam, Ärzte, Lehrer und Schulleitungen statt, bei dem das vorherige Projektjahr reflektiert und das kommende Projektjahr besprochen wird.

Das Treffen dient dem gegenseitigen Kennenlernen, Netzwerken und der Projektoptimierung. Im ersten Projektjahr von „fit für PISA Plus“ verpflichteten sich die Teilnehmer aus Schule und Projektteam, an einer gemeinsamen Prozessevaluation teilzunehmen. Dabei wurde geprüft, ob die Module durchführbar und effektiv sind. Daraufhin sind die Modulinhalte weiterentwickelt und angepasst worden.

Im Schuljahr 2015/2016 wurde das Modul „Sport und Bewegung“ im Rahmen einer Masterarbeit auf die sportmotorische Leistungsfähigkeit überprüft. Neben der Aufnahme der anthropometrischen Daten wurden motorische Tests (hier erweiterter Münchner Fitness-Test nach Bös) in den zweiten „fit für PISA Plus“-Klassen durchgeführt. Dazu wurden zwei Erhebungswellen durchgeführt.

Welche Rückschlüsse lassen sich aus den Ergebnissen ziehen?

Hesse-Noll: Aus diesen Ergebnissen der Masterarbeit lassen sich Rückschlüsse auf die sportmotorische Leistungsfähigkeit der am Projekt teilnehmenden Kinder sowie mögliche motorische Stärken und Schwächen ziehen. Im Durchschnitt entsprach die sportmotorische Leistungsfähigkeit der untersuchten Kinder des Projektes „fit für PSA Plus“ der Normenpopulation des „Erweiterten Münchner Fitnesstests". Insbesondere die Mitgliedschaft im Sportverein sowie der Gewichtsstatus haben Einfluss auf die sportmotorische Leistungsfähigkeit genommen.

Darüber hinaus wurde festgestellt, dass in den Sportangeboten von „fit für PISA Plus“ eine Vertiefung im Bereich Koordination und Ausdauer erfolgen muss, da die getesteten Kinder hier bereits Defizite aufwiesen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die zusätzlichen Sportstunden im Rahmen des Projektes positiv auf die motorische Leistungsfähigkeit der Kinder auswirken und fortgesetzt werden sollten. 

Was bestätigt den Erfolg noch?

Hesse-Noll: Das Vorgängerprojekt „fit für Pisa“ wurde bereits zwischen 2003 und 2009 in Form einer Promotionsarbeit an Universität Göttingen evaluiert. Diese zeigte, dass das Projekt organisatorisch ohne größere Probleme umsetzbar war. Effekte in Teilbereichen der motorischen Leistungsfähigkeit und bei der Stärkung des Selbstwertgefühls der Kinder bestätigten unseren Erfolg. Die Kinder nahmen mit großer Begeisterung am täglichen Schulsport teil. Mehr als 70 Prozent waren zum Ende des Projektes Mitglieder in Göttinger Sportvereinen.

Außerdem haben wir für eine größere Untersuchung zur Nachhaltigkeit des „fit für PISA“ Projektes in den Schuljahren 2007/08 bis 2010/11 mit der Medizinischen Hochschule Hannover kooperiert. Es zeigte sich, dass die Interventionskinder auch nach zwei Jahren noch häufiger Mitglied in Sportvereinen waren, signifikant weniger Zeit vor dem Fernseher verbrachten und sich außerdem selbst als ausgeglichener und beweglicher wahrnahmen. Eltern und Lehrer berichteten uns von mehr Freude der Kinder am Sport sowie einer erhöhte Motivation Freizeitsport und neue Sportarten zu treiben.

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Haben die IN FORM-Auszeichnung für den ASC Göttingen von 1846 e. V. entgegen genommen (v.l.n.r.): Madeleine Hesse-Noll (Ökotrophologin), Kaya Stephainski (Projektkoordinatio) und Dr. Vicky Henze (Projektkoordination) mit Lars Switala (BLE). © m&p / IN FORM

Das Projekt „fit für PISA Plus“ erhielt dieses Jahr die Auszeichnung „Wir sind IN FORM“ und ist nun Teil von „IN FORM - Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung". Wie kam es dazu?

Hesse-Noll: Der Aktionsplan „IN FORM- Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und Bewegung“ hat das Ziel, das Ernährungs- und Bewegungsverhalten in Deutschland nachhaltig zu verbessern. Die Förderung einer ausgewogenen Ernährung und ausreichend Bewegung stehen dabei im Vordergrund. Genau das, die Förderung eines gesunden Lebensstils, sind die Ziele von „fit für PISA Plus“. Der Anstoß, unser Projekt für „IN FORM - Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung" zu bewerben, kam von IN FORM selbst.

Wer sind Förderer des Projekts?

Hesse-Noll: „fit für PISA Plus“ ist als Gemeinschaftsprojekt des ASC Göttingen von 1846 e. V. (größter Breitensportverein in Niedersachsen mit ca. 9000 Mitgliedern; Anm. d. Red.), der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen, des Sozialpädiatrischen Zentrums Göttingen der Universitätskinderklinik Göttingen und dem Institut für Ernährungspsychologie entstanden. Einen großen Beitrag, um „fit für PISA Plus“ finanzieren zu können, leistet die „Susanne und Gerd Litfin Stiftung“, die sich für soziale Projekte in Göttingen einsetzt.

In den vergangenen Jahren wurde „fit für PISA Plus“ außerdem von verschiedenen Unternehmen und Vereinen gefördert, unter anderem von der Gesundheitsregion Göttingen e. V., der Städtischen Wohnungsbau GmbH Göttingen und der Volksheimstätte eG.

Spielt das Stichwort Integration auch eine Rolle?

Hesse-Noll: Ja, da das Projekt aktiv an zwei Brennpunktschulen mit hohem Migrationsanteil arbeitet. Alle Kinder der teilnehmenden Schulen werden unabhängig ihres sozioökonomischen Status erreicht. Die Kinder können so an Aktionen wie dem jährlichen Frühjahrslauf teilnehmen, da das Projekt die Startgelder der Kinder übernimmt. Die Kleinen sind motiviert und probieren gerne Neues aus. Auch wenn die Sprache zunächst eine Barriere darstellt, können die Kinder über Gestik gut einbezogen werden. Die vielfältigen Esskulturen und Erfahrungen, die sie miteinbringen, sind eine Bereicherung für das Ernährungsmodul.

Sind Folgeprojekte geplant?

Hesse-Noll: Mit Ende des Schuljahres 2015/2016 hat der erste Jahrgang das Projekt nach vier Jahren beendet. Das Projekt läuft derzeit ohne Enddatum. Allen Klassen soll aber eine vierjährige Projektlaufzeit ermöglicht werden. Weiterhin sind wir interessiert daran „fit für PISA Plus“ an noch mehr Grundschulen anzubieten und auch über die Schulen in Göttingen hinaus Teilnehmer zu gewinnen.

Wie wollen Sie dies erreichen?

Hesse-Noll: Dazu werden regelmäßige Gespräche mit Schulen und Schulsportbeauftragten geführt. Die zusätzlichen Sport- und Bewegungseinheiten könnten über die Mithilfe ortsansässiger Sportvereine gesichert werden. Das Arztmodul hängt von dem Engagement der Ärzte vor Ort und dem Interesse der Schulen ab. Je nach Entfernung könnte auch das Ernährungsmodul über den ASC Göttingen von 1846 e. V. angeboten werden.

Das Gespräch für die ERNÄHRUNGS UMSCHAU führte Myrna Apel.


Zur Person
© privat
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Madeleine Hesse-Noll hat von 2011 bis 2014 an der Hochschule in Fulda Oecotrophologie studiert. Während ihres Praxissemesters am Institut für Ernährungspsychologie in Göttingen hat sie das Projekt „fit für Pisa Plus“ kennengelernt und das Team bei den Ernährungseinheiten unterstützt. Seit September 2014 arbeitet Hesse-Noll bei der asc Kinderbetreuungs gGmbH.

Für den ASC Göttingen von 1846 e. V. hat sie das Ernährungsmodul in einigen Klassen umgesetzt und mit ihrer ehemaligen Kollegin Kaya Stephainski Ernährungseinheiten für die dritten und vierten Klassen konzipiert. Seit März 2015 gehört auch die Essensverpflegung der asc-Kindertageseinrichtungen zu ihren Aufgaben.

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