Tagung Tutzing
Ausschnitt des Tagungsflyers. © A. Mrozek-Abraham/eat

Heidelberger Ernährungsforum: Ernährungstrends – lästiges Übel oder Chance?

Im September veranstalteten die Dr. Rainer Wild-Stiftung und die Evangelische Akademie in Tutzing das 19. Heidelberger Ernährungsforum zu einem heiß diskutierten Thema: Die Individualisierung der Ernährung – über das wie und warum verschiedener Ernährungsformen, über Angst vor einzelnen Lebensmittel(bestandteilen) und über ominöse Diagnoseverfahren. Hauptaugenmerk dieses Tagungsberichts ist, welche Chancen und Grenzen die Individualisierung mit sich bringt für Ernährungsberatung, Gemeinschaftsverpflegung und das generelle Miteinander.

Ob ideologische Gründe wie bei vielen Veganern, ob kulinarischer Lifestyle, (vermeintlich) gesundheitliche Gründe bei Allergien und Unverträglichkeiten, ob glutenfrei, Rohköstler, Paleo, oder Clean Eating… – die Auswahl möglicher Ernährungsweisen ist größer geworden und somit ist Essen heute oftmals eher trennendes als verbindendes Element. Viele definieren sich darüber, was sie nicht essen und Einzelne, aber auch Gruppen, behaupten „die richtige“ Ernährungsweise definiert zu haben – aber wie Dr. Gesa Schönberger (Dr. Rainer Wild-Stiftung) in ihrer Eröffnungsrede entgegnete: Es gibt viele „richtige“ Ernährungsweisen.

Ernährungstrends: Dazugehören oder sich abgrenzen
Dem Phänomen „richtig Essen“ näherte sich Prof. Dr. Paula-Irene Villa (LMU München) aus sozialwissenschaftlicher Perspektive: Welche Menschen finden in welchen Situationen welches Essen gesund? Sie zeigte: Essen spielt z. B. eine zentrale Rolle bei der Vergeschlechtlichung. Isst eine Frau Cupcakes? Oder Steak? Oder gar Fleischsalat? Menschen wollen sich sozial positionieren, auch mit ihrem Essen: Dazugehören oder abgrenzen, individuell essen oder dagegenhalten, z. B. extra anti-pluralistisch, fleischlastig, „apolitisch“ oder „anti-modernistisch“. Doch ist „extra anders“ nicht auch nur „anders“? Auch PD Dr. Heike Maas (Universität des Saarlandes) zeigte anhand mehrerer Studien, dass Essen zur Distinktion genutzt wird und dass wir Menschen auch anhand ihres Essens beurteilen. Die Persönlichkeit ist stark und konsistent mit Verhaltensweisen, also auch Gesundheitsverhalten, verknüpft. Dass Jugendliche sich z. T. anders ernähren als ihre Eltern, bspw. ohne Fleisch oder mit Fast Food, kann als moderne Form der Rebellion gewertet werden. Dabei ist Abgrenzung über den Ernährungsstil – verglichen mit manch anderem – doch eine relativ unbedenkliche Art, sich als Individuum zu definieren. Dass Ernährungstrends einfach Trend sind, veranschaulichte Dr. Thomas Schröder (Dr. Rainer Wild-Stiftung): Schon 1926 prognostizierte Kondratjew in „Die Langen Wellen der Konjunktur“, dass Gesundheit zur heutigen Zeit die sechste dieser langen Konjunkturwellen (Kondratjew-Zyklen) sein würde. Ein Trend, der also absehbar war?

Gemeinschaftsverpflegung: Für jeden Einzelnen oder für alle zusammen?
Bei der Vielfalt an Ernährungsformen stößt die Gemeinschaftsverpflegung bereits jetzt an ihre Grenzen. Nicht jedem kann sie gerecht werden. Dass es auch Wege gibt, damit dennoch vorbildlich umzugehen, zeigte Rainer Roehl (a’verdis, Beratungsunternehmen für Außer-Haus). Mindeststandard ist mittlerweile die Allergenkennzeichnung. Roehl konstatierte, das aber auch bald zur Norm werde, ein vegetarisches und ein veganes Gericht anzubieten und bspw. mit Symbolen zu kennzeichnen, ob Fisch und welche Fleischsorten enthalten sind – und woher die Zutaten stammen. Dies veranschaulichte er mit vorbildlichen Großküchenbeispielen von Universitäten, Möbelhäusern und anderen Betrieben, die ihre Speisepläne nicht nur neu komponieren, sondern auch noch verständlich und ansprechend kommunizieren. Für ihn ist Fleisch (hin zu weniger und besserem) das Thema Nummer 1 für Ernährung; außer Haus, daheim und über alle Trends hinweg.

Kommentar: Selbst während des Forums war z. T. eine deutliche Ablehnung und „Genervtheit“ gegenüber „frei von“ und vegan bemerkbar. Professorin Villa betonte jedoch, dass die Individualisierung der Ernährung, wie wir sie jetzt erleben, auch eine Chance sei: Das „Normale“ muss sich rechtfertigen, und fast alle denken darüber nach, wie und warum sie sich mit was ernähren. Dies sieht Villa als Freiheitsgewinn. Auch Dr. Schröder sieht in den Ernährungstrends eine Chance für soziale Innovationen, die sich bspw. schon in neuen Gemeinschaftsstrukturen wie Urban Gardening und der starken medialen aber auch sozialen Vernetzung zeigen. Man denke im Vergleich an die Ende 1970 begründete Vollwert-Ernährung nach Leitzmann et al.: Damals musste sie sich erst etablieren, mittlerweile sind Einzelaspekte wie Vegetarismus eher zum Mainstream geworden. Solche anfänglichen Trends sind oftmals ein Schritt auf dem langen Weg der Liberalisierung hin zu mehr Individualität und Selbstbestimmtheit. Vielleicht sind wir im Bereich der Ernährung noch in der anfänglich schwierigen Umbruchphase mit vielen konträren und radikalen Einzeltrends.

Es ist sehr zu hoffen, dass Ernährungsfachkräfte – nicht nur im Berufsleben sondern auch privat – „anders Essenden“ empathisch und offen begegnen. Natürlich erkennen wir ganz klar Unterschiede und Widersprüchliches bei der Masse an Ernährungsstilen. Anstatt sie zu verurteilen und in gut und schlecht einzuordnen, tun wir jedoch sicherlich besser daran, mit ihnen zu arbeiten. Denn ist es nicht genau das Schwarz-Weiß-Denken, das Unterteilen in „gut“ und „schlecht“, auch das, was viele von uns bei den Ernährungstrends so stört?

Stella Glogowski, Pohlheim

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