© michele piacquadio / iStock / Thinkstock
© michele piacquadio / iStock / Thinkstock

Interview: „Es sind die Anderen, die dick sind“

Unter dem Titel „Ernährung, Gesundheit und soziale Ordnung in der Moderne: Deutschland und die USA im Vergleich“ kooperieren die Universitäten Erfurt, Leipzig, München und das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ab Oktober 2015 für ein Forschungsprojekt. Im Rahmen des Projektes werden die Themen Ernährung und Gesundheit in Geschichte und Gegenwart untersucht.

Das Team aus vier hauptverantwortlichen Wissenschaftlern hinterfragt, was es eigentlich bedeutet, „gesund“ zu sein und sich „gesund“ zu ernähren. Die Experten mehrerer Fachgebiete erforschen die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Gesundheit und Leistungsfähigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven und analysieren, wie sich die individuellen Einstellungen in Deutschland und den USA entwickelt haben. Aber auch die Haltung der Gesellschaft zu diesem Thema wird eine wichtige Rolle spielen. Ein Fokus liegt etwa auf der Interaktion zwischen Individuum und Institutionen.

Die ERNÄHRUNGS UMSCHAU Online-Redaktion sprach mit Jürgen Martschukat, Professor für Nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt, über die Ziele des Projektes.

© HAMISH JOHN APPLEBY
Prof. Dr. Jürgen Martschukat lehrt Nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt. © HAMISH JOHN APPLEBY

Warum wollen Sie in diesem Forschungsprojekt gerade Deutschland und Amerika vergleichen?

Prof. Jürgen Martschukat: Der Ansatz ist, herauszufinden, was die Menschen in den beiden Ländern mit Übergewicht oder Leistungsfähigkeit verbinden. Denn gerade von europäischer Seite heißt es oftmals „es sind die Anderen, die dick sind und nicht wir“. Wir stellen uns hier die Frage: Wie bildet sich eine spezifische europäische Identität gegenüber den Amerikanern? Um das herauszufinden, haben wir fachübergreifende Experten, die sich innerhalb des Projektes mit verschiedenen Schwerpunkten befassen. Wir planen etwa eine medizinsoziologische Vergleichsstudie zur Einstellungen von Menschen zu Übergewichtigen und zum Übergewichtigsein in Deutschland und den USA.

Sie wollen interdisziplinär arbeiten. Wie groß ist Ihr Team und welche Fachgebiete sind vertreten?

Martschukat: Das Projekt wird neben mir von drei weiteren vorstehenden Wissenschaftlern betreut. Wir haben den Antrag gemeinsam gestellt und entwickelt. Uns ist die interdisziplinäre Ausrichtung dabei besonders wichtig. Im Team arbeiten daher Experten aus verschiedenen Fachrichtungen zusammen, unter anderem Maren Möhring aus Leipzig. Sie ist Professorin für Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte und Autorin des Buches „Fremdes Essen: Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland“.

Außerdem konnten wir die Soziologin Paula Irene Villa von der Ludwig-Maximilians-Universität München gewinnen. Sie ist Lehrstuhlinhaberin für Soziologie und Gender Studies am Institut für Soziologie der LMU. Frau Villa befasst sich vor allem mit Körpersoziologie und Körperlichkeit in der Gesellschaft.

Das vierte Projektmitglied ist Olaf von dem Knesebeck, Medizinsoziologe und Gesundheitswissenschaftler am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Mit ihm schlagen wir die Brücke zu allen medizinsoziologischen Gesundheitsfragen zu Fitness und Leistungsfähigkeit.


Sie selbst sind Nordamerika-Historiker, welchen Part übernehmen Sie in dem Quartett?

Martschukat: Ich habe mich in meiner Laufbahn als Historiker unter anderem mit dem Thema Sportgeschichte befasst. Mich interessiert dabei insbesondere die Fitnessbewegung, die ein Phänomen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist. Ich treffe in meiner Arbeit zunehmend auf Definitionen und Vorstellungen von Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft und dabei nimmt auch die Ernährung eine zentrale Position ein.


Welche Art Definition meinen Sie?

Martschukat: Damit ist unter anderem die Selbstdefinition und Selbstoptimierung des Körpers gemeint. Einige Smartphones besitzen bereits vorinstallierte Health-Apps, die den Körper vermessen und die eigene Fitness rund um die Uhr dokumentieren. Das sind die Fragen, die die Gesellschaft interessieren. Der Anstieg von Adipositas wird in den USA sogar noch stärker diskutiert als hierzulande.

Zunehmend hören wir den Tenor, dass es zu unserer natürlichen Lebensweise gehört, sich gesund zu ernähren, sich zu bewegen und nicht zu viel zu sitzen. Gleichzeitig ist es schon fast ein Akt der Selbstbestimmtheit, sich diesem Gesundheitswahn nicht zu unterwerfen, keine Schritte zu zählen und nicht täglich das eigene Essen zu fotografieren und mit dem Kalorienverbrauch in Relation zu setzen. Das perfekte kontrollierte Selbst nimmt heute durchaus gesellschaftlichen Platz ein.


Wie binden Sie diese Thematik in das Forschungsprojekt ein?

Martschukat: Ein Teilprojekt wird sich zum Beispiel mit der Geschichte der Einheit Kalorie befassen, ein anderes mit der Stigmatisierung von Übergewichtigen. Hinterfragen wollen wir außerdem das eben erwähnte Quantified Self, also der Trend, sich selbst in jeglicher Hinsicht zu vermessen und zu kontrollieren. Dann wird ein Projektteil das Stereotyp des „dicken Amis“ unter die Lupe nehmen und die Frage gestellt: Wie sehen wir in Europa uns selbst und wie grenzen wir uns von den Amerikanern ab?


Mit welchen Methoden werden Sie arbeiten?

Martschukat: Jeder Projektverantwortliche bedient sich ganz unterschiedlicher Methoden. Wir greifen auf einen Methodenmix zu. Herr von dem Knesebeck wird mit Hilfe einer quantitativen Telefonbefragung Daten generieren. Frau Villa dagegen arbeitet qualitativ mit Gruppengesprächen, schaut sich Blogs an und wie die Beteiligten agieren.

Frau Möhring kümmert sich um ein historisches gesellschaftsgeschichtliches Teilprojekt zum 19. Jahrhundert bis ins frühe 20. Jahrhundert. Ein weiteres betrifft die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland. Ich in Erfurt kümmere mich dann um das Pendant dazu in den USA. Dabei spielt auch die erwähnte Geschichte der Kalorie eine wichtige Rolle.

Alle drei Monate werden wir uns zu Workshops treffen, insgesamt 12 Mal im Zeitraum bis 2018. Da unsere Projektgruppe sehr kultur- und sozialwissenschaftlich geprägt ist, laden wir zu diesen Treffen auch externe Kollegen und Kolleginnen aus den Lebenswissenschaften ein. Hier wollen wir für weiteren Input mit einer Ernährungswissenschaftlerin und einer Medizinerin vom „Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas Erkrankungen“ diskutieren.


In Ihrer Vorankündigung zum Projekt weisen Sie auch auf die Interaktionen zwischen Individuum und Institutionen hin. Welche Interaktionen meinen Sie genau?

Martschukat: Gemeint ist etwa die Rolle von Institutionen wie Firmen oder Krankenversicherern. Es gibt immer mehr Angebote, sich in den Mittagspausen fit zu halten, indem der Arbeitgeber beispielsweise Sportangebote finanziert. Krankenkassen in den USA honorieren schon länger als in Deutschland die Bereitschaft, an der eigenen Leistungsfähigkeit zu arbeiten, indem sie etwa die Beiträge senken.

Ich hinterfrage dabei aber auch, warum so viele Menschen in den USA nicht nur aus Armut, sondern teilweise ganz bewusst in keiner Krankenversicherung sind. Das ist auch Zeichen eines Individualitäts- und Freiheitsmodells, das in den USA teilweise anders funktioniert als hierzulande.


Welchem Gesamtkonzept folgen alle Teilprojekte?

Martschukat: Alle Projektarbeiten kreisen um die gleichen Grundfragestellungen, das verbindet sie. Nämlich darum, was Ernährung, Übergewicht, Fitness und Leistungsfähigkeit oder Nicht-Leistungsfähigkeit in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit bedeuten. Das heißt, wie darüber gesprochen wird und wie das Thema mit Relevanz aufgeladen wird.


Können Sie ein Beispiel nennen?

Martschukat: Eine prominente Assoziation, die auch historisch nachvollzogen werden kann, ist die, dass „Dicksein“ mit Faulheit verbunden wird. Wir wollen zum Beispiel diese Fragen beantworten und klären, woher diese Assoziation kommt und was sie für das Leben von Individuen bedeutet.

Dieses Vorgehen ist das Leitmotiv des gesamten Projektes, auf das alle Teilprojekte in ihrer Disziplin hinarbeiten. Alle Ergebnisse sollen am Ende eine Antwort darauf liefern, wie Gesundheit und Ernährung aneinander gekoppelt werden und welche Rolle die zunehmende eigene Gesundheitsüberwachung in Deutschland und in den USA spielt.

Das Gespräch für die ERNÄHRUNGS UMSCHAU führte Myrna Apel.


Kontakt:
Prof. Dr. Jürgen Martschukat
Universität Erfurt / Geschichtswissenschaften / Nordamerikanische Geschichte
Tel.: +49 361 737-4411
FAX: +49 361 737-4419
Mail: juergen.martschukat@uni-erfurt.de

www.uni-erfurt.de

 

 

Das könnte Sie interessieren
Neues DFG-Positionspapier „Lebensmittel und Ernährungsforschung in Deutschland“ erschienen weiter
Shopping-Studie zum Tierwohl im virtuellen Supermarkt weiter
Wie kann die Implementierung des prozessgeleiteten Arbeitens in die Praxis der... weiter
Wissenschaftliche Grundlagen der lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen für... weiter
Wie Impulsivität und Wohlbefinden das Essen beeinflussen weiter
Nudging: Wollen sich Menschen zu gesunder Ernährung anhalten lassen? weiter