Sowohl im Ganzen, als auch als Lebensmittelinhaltsstoff: Die Thematik der Nahrungsmittelallergie gegen Insekten ist relativ neu und vielen unbekannt. © stockphototrends / iStock / Thinkstock
Sowohl im Ganzen, als auch als Lebensmittelinhaltsstoff: Die Thematik der Nahrungsmittelallergie gegen Insekten ist relativ neu und vielen unbekannt. © stockphototrends / iStock / Thinkstock

Interview: Allergiepotenzial von essbaren Insekten sollte nicht unterschätzt werden

Die neue Novel Food Verordnung vereinfacht die Zulassung von ganzen Insekten und Lebensmitteln aus Insekten in der EU. Produkte aus Mehlwürmern und Co. können jedoch nachweislich allergen wirken und somit eine Gefahr für Allergiker darstellen. Im Interview erläutert Lebensmittelchemiker Dr. Thomas Holzhauser den aktuellen wissenschaftlichen Stand und worauf Allergiker achten sollten.

Herr Holzhauser, warum besteht bei Arthropoden ein Sensibilisierungspotenzial?

Thomas Holzhauser: Wie bei praktisch allen Proteinquellen besteht auch bei Arthropoden, also Gliederfüssern, zu denen Insekten gehören, ein Sensibilisierungspotenzial. Das gilt auch für Spinnentiere (Arachnida), beispielsweise Milben oder Zecken, und Krustazeen (Crustacea), wie Garnelen oder Krebse, die auch zu den Arthropoden gehören. Die Sensibilisierung ist immer der erste Schritt hin zu einer Allergie. Sie stellt die allergenspezifische Veränderung des Immunsystems dar. Oftmals trifft das auf für die allgemeine Bevölkerung meist harmlose Proteine zu, in diesem Fall Nahrungsmittelproteine. Bei erneutem Kontakt mit dem Allergen kann es dann zur Auslösung der allergischen Symptome kommen. Dies muss aber nicht zwangsläufig so sein. So können Nahrungsmittel auch toleriert werden, obwohl eine allergenspezifische Sensibilisierung vorliegt. Die Gründe hierfür, also ob eine Sensibilisierung zur allergischen Reaktion führt oder nicht, sind aber noch nicht voll verstanden.


Um was für allergene Proteine handelt es sich hierbei?

Holzhauser: Derzeit sind über 250 einzelne allergene Proteine aus Arthropoden bekannt (siehe unter www.allergen.org/ Anm. d. Red.). Es handelt sich dabei oftmals um ähnliche Allergene aus einer sehr begrenzten Anzahl von Proteinfamilien. Bei erneutem Kontakt nach erfolgter Sensibilisierung sind dann allergische Reaktionen möglich. Am bekanntesten sind sicherlich inhalative Allergien gegen Hausstaubmilben, sowie Insektengiftallergien. Unter den Nahrungsmittelallergien ist die Garnelenallergie vor allem bei Erwachsenen zu nennen. Nahrungsmittelallergien gegen Insekten sind in unseren Breiten wenig bekannt. Dagegen wurden berufsbedingte Allergien bei der Aufzucht von Insekten in der klinischen Fachliteratur beschrieben.

Da Arthropoden entwicklungsbiologisch relativ eng untereinander verwandt sind, weisen sie Proteine mit großer Ähnlichkeit auf. Einige dieser Proteine sind als Allergene bekannt, so dass sie einerseits sensibilisierend wirken können. Andererseits sind aufgrund der Proteinähnlichkeit bei bestehender Sensibilisierung gegen Proteine einer Spezies allergische Kreuzreaktionen gegen ähnliche Proteine einer anderen Spezies innerhalb der Arthropoden möglich. Unser Wissen hierzu ist nach wie vor begrenzt, insbesondere mit Blick auf Nahrungsmittelallergien. So besteht weiterhin großer Forschungsbedarf, um zu klären, welche Arthropoden ein besonders hohes Sensibilisierungspotenzial aufweisen und somit primär sensibilisierend wirken, und zwischen welchen Arthropoden allergische Kreuzreaktionen möglich sind.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Sensibilisierungswege sehr unterschiedlich sein können. Bei Haustaubmilbenallergie oder Allergie gegen Schaben handelt es sich vorrangig um eine inhalative Allergie; auch die Aufnahme über die Haut beziehungsweise Schleimhaut ist denkbar. Bei klassischen Nahrungsmittelallergien steht dagegen die Aufnahme durch Ingestion, also über den Mund, im Vordergrund.


Was bedeutet das bezogen auf Kreuzreaktionen?

Holzhauser: Das bedeutet, dass inhalative Sensibilisierungen durch Haustaubmilben und Schaben denkbar sind, die dann zu allergischen Kreuzreaktionen bei Verzehr von Krustazeen oder Insekten führen können. Die Datenlage ist hierzu jedoch begrenzt. Inzwischen gibt es einige Erkenntnisse über Sensibilierungen und Allergien gegen Garnelen als Nahrungsmittelallergen, die zu allergischen Kreuzreaktionen mit Insekten als Lebensmittel führen können. In diesem Fall ist Ingestion die Route sowohl für die Sensibilisierung wie auch die Auslösung der allergischen Reaktion.


Können Sie Beispiele für allergische Reaktionen auf Insekten nennen?

Holzhauser: In der klinisch-allergologischen Fachliteratur sind einzelne Episoden allergischer Reaktionen nach Verzehr von Insekten beschrieben worden. Beispielsweise wurden allergische Reaktionen nach dem Verzehr der Seidenspinnerraupe, von Sagowurm, also der Larve eines Rüsselkäfers, oder von Mopanewurm, einer Schmetterlingsraupe, beschrieben. Die Fälle stammen insbesondere aus Asien oder Afrika, wo Insekten und deren Larven traditionell verzehrt werden. Es handelt sich dabei häufig um wildgefangene Insekten. Auslöser der allergischen Reaktionen sind in jedem Fall allergene Proteine der Insekten, die zum einen selbst zu einer Sensibilisierung führen können, oder aufgrund bestehender Allergien gegen andere Gliederfüsser wie Garnelen oder Krebse allergische Kreuzreaktionen auslösen können. Das Spektrum der allergischen Reaktionen kann wie bei anderen Nahrungsmittelallergien von milden, lokal begrenzten Reaktionen wie Hautausschlag oder Lippenschwellung hin zu schweren, systemischen Reaktion reichen, die mehrere Organe betreffen. Dies kann dann in Einzelfällen zum lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schock führen.


Gibt es bereits wissenschaftliche Studien zu dieser Thematik?

Holzhauser: Systematische Studien zur Insektenallergie als Nahrungsmittelallergie sind rar. Eine relativ aktuelle niederländische Studie (Broekman H et al., 2016, J Allergy Clin Immunol 137(4):1261 / Anm. d. Red.) wurde nach dem derzeit besten klinischen Standard, der doppelblinden plazebokontrollierten oralen Provokation (DBPCFC, double-blind placebo-controlled food challenge / Anm. d. Red.) durchgeführt. Untersucht wurden Garnelenallergiker beziehungsweise Allergiker mit Garnelen- und Haustaubmilbenallergie, die nach bestem Wissen bislang kein Mehlwurmprotein verzehrten. Die Studie konnte zeigen, dass die Garnelenallergiker auch nach dem Verzehr von Mehlwürmern allergisch reagierten, also durch Tenebrio molitor, eine Käferlarve. Von fünfzehn getesteten Garnelenallergikern reagierten dreizehn positiv auf die Mehlwürmer. Wenn auch die Anzahl der Studienteilnehmer gering war, ist eine deutliche Tendenz zur allergischen Kreuzreaktion mit Mehlwürmern nach Sensibilisierung gegen Garnelen beziehungsweise Hausstaubmilben sichtbar. Objektive allergische Reaktionen waren ab etwa 0,2 Gramm Mehlwurmprotein zu beobachten. Bei vier der dreizehn positiv getesteten Allergiker lagen zudem Informationen über Auslösemengen von Garnelenprotein vor. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass in diesen vier Patienten die Auslöseschwellen wie auch der Schweregrad der Symptome nach Garnelenprovokation beziehungsweise Mehlwurmprovokation vergleichbar waren.


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