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Belastbare Aussagen: Aufwand für die wissenschaftliche Begleitung der Maßnahmen zur Adipositasprävention muss erhöht werden. © Moussa81 / iStock / Thinkstock

Ernüchternde Forschung: Wirkung von Programmen zur Adipositasprävention unzureichend belegt

  • 27.03.2017
  • News
  • Redaktion

Für den 13. DGE-Ernährungsbericht haben Prof. Dr. med. Michael Krawinkel, Dr. oec. troph. Katja Schneider und Dr. oec. troph. Leonie Knorpp die Evidenz für die Wirkung von Maßnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention von Adipositas in einer systematischen Übersicht erarbeitet. Das Fazit der Wissenschaftler ist bedenkenswert: Trotz jahrzehntelanger Forschung ist die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Adipositasprävention nicht eindeutig nachgewiesen. Dies liegt vor allem an methodischen Mängeln.

Um einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu erhalten, werden immer häufiger die Ergebnisse von Einzelstudien in Systematischen Reviews (SR) systematisch erfasst und bewertet. Für einige ernährungswissenschaftliche Themen ist die Anzahl an SR mittlerweile so groß, dass SR über SR veröffentlicht werden. Durch solche sogenannten Umbrella Reviews (UR) werden die Ergebnisse der SR verglichen und analysiert, sodass eine umfassende Untersuchung der verfügbaren Evidenz auf einem hohen Abstraktionsniveau möglich ist.

Zu Fragestellungen der Adipositasprävention sind bereits mehrere UR, die sich auf Maßnahmen der Primär-, Sekundär- bzw. Tertiärprävention beziehen, publiziert worden. Allerdings fehlt es derzeit an einem umfassenden UR, der bisher erstellte Reviews hinsichtlich der verschiedenen Settings strukturiert und kritisch begutachtet.

Der UR von Prof. Krawinkel und seinen Kolleginnen im 13. Ernährungsbericht untersucht, welche Effekte Interventionen zur universellen und primären Adipositasprävention in den Settings Schule, Kindergarten und Arbeitsplatz bezogen auf anthropometrische Indikatoren sowie auf das Ernährungsverhalten und die körperliche Aktivität zeigen. Auf Basis der systematischen Aus- und Bewertung der verfügbaren Evidenz wird die Wirksamkeit von ernährungs- und aktivitätsbezogenen Maßnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention analysiert. Um die Aussagekraft für Deutschland zu erhöhen, wird der UR durch eine Auswertung deutscher Projekt- und Evaluationsberichte ergänzt. 

Entscheidende Mängelliste

Die Hälfte der Projekte formuliert spezifische, messbare und realistische Ziele. Dabei bestehen jedoch häufig methodische Mängel:

  • Mehr als drei Viertel der Projekte geben keinen spezifischen Zeitpunkt an, zu dem die Ziele erreicht werden sollen.

  • In weniger als einem Viertel der Projekte wird von einer fortlaufenden Begleitung und Überprüfung der Durchführung berichtet. Die meisten Projekte werden extern evaluiert, zum Beispiel von Universitäten oder anderen Forschungseinrichtungen.

  • In nur einem Viertel aller Projekte erfolgen Nachbeobachtungen nach Ende der Intervention, sodass langfristige und nachhaltige Wirkungen der (positiven) Effekte nicht kontrolliert werden können.

  • In weniger als der Hälfte der Fälle erfolgt die Ergebniskontrolle anhand anthropometrischer Endpunkte (wie BMI).

  • Rund 40 Prozent der Projekte evaluieren die Wirksamkeit der Intervention ohne Kontrollgruppe.
Fazit

In der Adipositasprävention bestehen viele Projekte mit potenziell guten Ansätzen. Aufgrund methodischer Probleme, die anhand der analysierten Evaluations- und Projektberichte aufgezeigt werden konnten, kann jedoch nicht ausreichend belegt werden, dass sie erfolgreich Übergewicht oder Adipositas entgegenwirken. Die geringe Anzahl an Projekten mit einer langfristigen Nachbeobachtung ermöglicht auch keine Aussage dazu, ob die Interventionen langfristig zur Prävention von Übergewicht und Adipositas beitragen.

In Anbetracht der jahrzehntelangen Forschung zu Verhaltens- und Verhältnisprävention von Adipositas und dem damit einhergehenden großen Fundus an Primär- und Sekundärstudien ist es ernüchternd, wie wenig belastbare Aussagen über die Wirksamkeit der verschiedenen Interventionen getroffen werden können. Die vorliegende Analyse zeigt, dass viele Ergebnisse mit erheblicher Unsicherheit behaftet sind. „Der Aufwand, der in den Interventionen notwendig ist, um zu belastbaren Aussagen zu gelangen, wird meistens unterschätzt", sagt Autor Prof. Michael Krawinkel von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ungefähr ein Drittel des Budgets, das für eine Intervention eingesetzt wird, müsse auch für Begleitforschungsmaßnahmen vorgehalten werden. Das macht die Maßnahmen allerdings teurer und viele Träger scheuen sich, diese Kosten zu übernehmen. 

„Unser Appell ist, dass der Aufwand für die wissenschaftliche Begleitung aller Maßnahmen zur Adipositasprävention auf allen Ebenen deutlich erhöht werden muss, wenn wir zu belastbaren Schlussfolgerungen und zu den wirklich funktionierenden Wegen der Adipositasforschung finden wollen", so der Experte.



Quellen: DGE info, 2/2017 (Supplement der ERNÄHRUNGS UMSCHAU Ausgabe 2/2017; 13. Ernährungsbericht der DGE; Videoaufzeichnung mit Prof. Krawinkel

Videointerview zur Adipositasforschung | Prof. Dr. med. Michael Krawinkel
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