Editorial Ernährungswende: Erst kommt die Moral und dann das Essen?

Im Journal Food Quality and Preference erschien unlängst der Open-access-Beitrag Favoring plant instead of animal protein sources: Legitimation by authority, morality, rationality and story logic [1]. Wen der sperrige Titel nicht abschreckt, der erhält darin eine detaillierte Übersicht der verflochtenen, sich teilweise widerstrebenden Interessen und Informationskampagnen, die auf uns Lebensmittel-KonsumentInnen im Zusammenhang mit Kauf- und Ernährungsentscheidungen einwirken: Tag für Tag, seit Jahren, teilweise bereits über Generationen (ich erinnere mich noch an staatlich geförderte Kampagnen wie „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ oder „Milch ist gegen Maroditis“). Anlass für unseren Herausgeber, Prof. Heseker, die Autoren Joop de Boer und Harry Aiking vom Institute for Environmental Studies, VU University Amsterdam, um eine komprimierte Fassung dieses Artikels für die ERNÄHRUNGS UMSCHAU zu bitten. Die Autoren sind dieser Bitte gerne nachgekommen.

„Schlüsselfaktoren zur Legitimation einer Ernährungsumstellung von tierischen hin zu pflanzlichen Proteinquellen“ (Beitrag auf der Folgeseite) ist immer noch keine Formulierung, die sich als Überschrift in Boulevardzeitungen eignet. Und darin liegt eine der Herausforderungen für Initiativen zu einer von VerbraucherInnen getragenen und im Idealfall als „selbstverständlich“ empfundenen Ernährungsweise, die nicht auf Kosten der eigenen Gesundheit, weltweiter Ökosysteme oder benachteiligter Bevölkerungsgruppen geht. Differenzierte, teilweise komplizierte Sprache trifft auf gefährliche Verkürzungen [2] oder gar Kampfrhetorik; nicht nur in Wahlkampfzeiten (bloß nicht wieder ein „Veggie-Day“). Wir haben uns diese Spielregeln nicht ausgedacht, aber sie existieren und sind wirkmächtig.

Motive für (Lebensmittel-)Einkaufsentscheidungen haben wir in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU schon mehrfach vorgestellt (z.B. in [3]). Dass die Bereitschaft, andere Ernährungsweisen nicht als Infragestellung der eigenen Person zu empfinden, mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs zusammenhängt und welche Player diesen Diskurs mit welchen Motiven instrumentalisieren, beleuchtet der nachstehende Beitrag. Er analysiert die Mechanismen, welche dazu führen, dass Menschen Einstellungen ändern (oder verteidigen), und wie diese Prozesse im Verlauf dazu führen können, dass ein größerer Anteil der Bevölkerung sich letztlich anders ernährt, als noch vor Jahren. Für Foodies bzw. InfluencerInnen mag die vegane Lebensweise ein Markenzeichen und damit ein Erfolgsfaktor sein. Für den älteren Familienvater am gerade erst angeschafften Hightech-Grill aber möglicherweise ein (noch nicht überwindbares) Imageproblem.

De Boer und Aiking arbeiten deutlich heraus, dass die Expertise von Ernährungsfachkräften und die Empfehlungen von Fachgesellschaften nur einzelne Stimmen in einem komplexen Zusammenspiel und im Wettstreit um Deutungshoheiten sind. Ob überhaupt, wie schnell und wie umfassend Ernährungsumstellungen vor dem Hintergrund der Klimaproblematik mit all ihren Folgen vonstattengehen, hängt viel mit dem im Beitrag besprochenen Konzept der Legitimität zusammen. Und damit treffen – auch in der Debatte um die „richtige“ Ernährungsweise – zwei nicht leicht vereinbare Konzepte aufeinander: Die um Evidenzbasierung bemühte Ernährungswissenschaft mit ihren Empfehlungen wird mit einem „sozial konstruierten System von Normen, Werten, Überzeugungen“ konfrontiert: Die „Maximalhäufigkeit für frittierte Produkte“ der DGE-Qualitätsstandards trifft auf geprägte und durch gephotoshopte Werbebotschaften getriggerte Geschmacksvorlieben. Nüchterne Tabellenwerke treffen auf die Emotionalität des Storytelling. Der Aufruf zum möglichst geringen Fleischkonsum der Planetary Health Diet will auch von Menschen gehört werden, für die „jetzt kann ich mir mehr Fleisch leisten“ eher ein Statussymbol als ein Nachhaltigkeitsdilemma ist [4]. Und da sind keine Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen, die sagen: Wissenschaftliches Argument sticht Weltanschauung bzw. Moral geht über odds ratio. Als Gesellschaft müssen wir unsere Ziele gemeinsam aushandeln und die Konsequenzen gemeinsam tragen. Und dabei lernen, offen mit möglichen Zielkonflikten umzugehen: Inwieweit etwa ergänzen oder widersprechen sich Ansätze für eine nachhaltigere Ernährungsweise und Empfehlungen für eine gesundheitsförderliche Ernährung? Diese Frage hat Zündstoff, vor allem, wenn wir sie nicht aus nationaler, sondern europäischer [5] und vor allem aus weltweiter Perspektive diskutieren. Dann spielt nämlich auch noch der Aspekt Verteilungsgerechtigkeit eine Rolle.

Ihr Udo Maid-Kohnert

  1. de Boer J, Aiking H: Favoring plant instead of animal protein sources: legitimation by authority, morality, rationality and story logic. Food Qual Prefer 2021; 88: 104098.
  2. Max Planck Institut für Bildungsforschung (2015). Unstatistik des Monats: Wursthysterie. www.mpib-berlin.mpg.de/unstatistik-fleischkonsum-erhoeht-darmkrebsrisiko  (last accessed on 21 July 2021).
  3. Hieke S, Grunert KG: Wie entscheiden wir, was wir essen? Ernährungs Umschau 2020; 67: M424–23.
  4. Heinrich Böll Stiftung (ed.): Fleischatlas. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel 2021. www.boell.de/de/de/fleischatlas-2021-jugend-klima-ernaehrung  (last accessed on 21 July 2021).
  5. de Boer J, Aiking H: Exploring food consumers’ motivations to fight both climate change and biodiversity loss: combining insights from behavior theory and Eurobarometer data. Food Qual Prefer 2021; 94: 104304.


Den vollständigen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 8/2021 auf Seite M462.

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