Wissenschaftliche Evidenz in der Ernährungspolitik

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Peer-Review-Verfahren / Manuskript (Übersicht) eingereicht: 13. September 2021 / Überarbeitung angenommen: 30. November 2021

Einleitung1

Das globale Ernährungssystem steht vor Herausforderungen, denen nur mit entschlossenem politischem Handeln begegnet werden kann. Wissenschaftliche Evidenz kann helfen, vielversprechende Handlungsoptionen zu identifizieren, und die beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen von politischen Maßnahmen abzuschätzen. Entscheidungen sollten dabei nicht auf Grundlage von einzelnen Studien gefällt werden, sondern den Gesamtkorpus der verfügbaren Evidenz berücksichtigen. Dieser schließt im Sinne eines notwendigen Methodenpluralismus diverse Formen direkter und indirekter Evidenz ein.

Warum brauchen wir Ernährungspolitik?

Das globale Ernährungssystem ist ein Wunder und ein Desaster zugleich – mit diesen Worten beginnt die im Juli 2021 veröffentlichte nationale Ernährungsstrategie Großbritanniens [1]. Dieser prägnanten Diagnose ist zuzustimmen. Das globale Ernährungssystem produziert heute entgegen allen malthusianischen2 Prophezeiungen ausreichend Nahrung für mehr als sieben Milliarden Menschen. Hochkomplexe, international vernetzte Produktionssysteme und Lieferketten stellen sicher, dass ein wachsender Anteil der Weltbevölkerung ganzjährig, mit minimalem Aufwand und zu günstigen Preisen aus einer historisch einmaligen Vielzahl an attraktiven Lebensmitteln auswählen kann [1]. Doch auch die Herausforderungen, vor denen das Ernährungssystem steht, sind gigantisch, und Fachleuten nur allzu gut vertraut: Das Ernährungssystem ist für ein Viertel bis ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich und stellt die wichtigste Antriebskraft hinter Biodiversitäts- und Habitatverlust, Landdegradierung und dem Verlust nutzbarer Süßwasserreserven dar [1–3]. Für die Produktion tierischer Lebensmittel leben und sterben jedes Jahr viele Milliarden empfindungsfähiger Wesen unter oft leidvollen Bedingungen, was berechtige Fragen hinsichtlich Ethik und Verantwortung aufwirft [4]. Weiterhin ist die Prävalenz ernährungsmitbedingter Erkrankungen weltweit im Ansteigen begriffen und wächst insbesondere in Ländern des globalen Südens rasant [5].

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1 Der Beitrag basiert auf einem Online-Plenarvortrag zum wissenschaftlichen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ernährung am 12.03.2021.

Abstract

Die aktuellen Herausforderungen an das globale Ernährungssystem erfordern organisierte gesellschaftliche Anstrengungen und entschlossenes politisches Handeln. Zentrale Prinzipien der Evidenzbasierung lassen sich auch auf Public Health- und Ernährungspolitik anwenden, denn wissenschaftliche Evidenz kann helfen, geeignete Handlungsoptionen zu identifizieren, und die beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen von politischen Maßnahmen abzuschätzen. Einschätzungen und Entscheidungen sollten dabei nicht auf Grundlage einzelner Studien getroffen werden, sondern den Gesamtkorpus der verfügbaren Evidenz berücksichtigen. Dieser schließt im Sinne eines notwendigen Methodenpluralismus diverse Formen direkter und indirekter Evidenz ein. Für drei Ansatzpunkte – Regulierung von Lebensmittelwerbung, Lebensmittelbesteuerung sowie Ernährungsbildung – wird in diesem Beitrag die Evidenzgrundlage beschrieben. Für die Wissenschaft ergibt sich bei ernährungspolitischen Fragestellungen die Herausforderung, mit relevanten gesellschaftlichen und politischen Akteuren und mit der Öffentlichkeit in einen Dialog zu treten.

Schlüsselwörter: Ernährungspolitik, Ernährungssystem, Evidenzbasierung, Public Health, Wissenschaftskommunikation

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Peer reviewed Manuscript (overview) received: 13 September 2021 Revision accepted: 30 November 2021

Scientific evidence in nutrition policy1

Abstract

The global food system is facing enormous challenges which call for decisive political action. Scientific evidence can help to identify promising policy options, and to assess the intended effects and the unintended consequences of these. Policy decisions should not be made on the basis of individual studies, but should consider the entire body of available evidence. In line with calls for a pluralism of methods, this body of evidence includes various forms of direct and indirect evidence. The following article outlines the diverse evidence base for three key policies: regulation of food advertising, food taxation, and nutrition education. Particularities of nutrition policy research call for a broad dialogue between the scientific community, relevant societal and political actors, and the public.

Keywords: Nutrition policies, food system, evidence-based public health, public engagement with science

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Den vollständigen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 1/2022 von Seite M22 bis M29.

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