Zu guter Letzt 7/17: Wenn die Süßen sauer werden…

Diese letzte Seite ist nicht – wie eilige Leser vielleicht vermuten könnten – den neuesten gelatinösen Entwicklungen eines rheinischen Süßwarenherstellers gewidmet, die derzeit1 mit medialer Unterstützung eines bajuwarisch-Gutonkelhaften Comedians intensiv beworben werden.

Nein – die Motivation zu diesem Text entstand durch zwei Pressemeldungen: Ein Wirtschaftsverband zur Förderung des weißen rieselfähigen Rübengoldes2 und gar der Dachverband der Lebensmittelwirtschaft3 rechnen nun endgültig mit unserem derzeitigen Ernährungsminister ab! Aufgefahren werden die Standardgeschütze der Lebensmittel-Lobby: Kulturgüter sind in Gefahr (Salzbrezel im Biergarten und der zuckerglitzernde „Berliner“) und ein Geschmacks-Totalitarismus fast schon nordkoreanischer Prägung drohen („staatlich verordnete Gleichmacherei sowie eine ebenso staatlich verordnete Umerziehung in Sachen Geschmacksempfinden“).

Grund der berufsmäßigen Aufregung: Ein vom Bundesernährungsministerium vorgelegter Entwurf zur Reformulierung und Reduktion von Zucker, Salz und Fetten in Lebensmitteln4. Wohl gemerkt: Ein Entwurf – nach jahrelangen und in der Summe letztendlich vergeblichen Appellen zur Selbstverpflichtung der Industrie und praktisch als Schlusslicht in Europa.

Zur Kultur und ihren Gütern ließe sich vieles sagen: Nur ist sie wohl kaum an Salzmengen des Brezelrezeptes festzumachen (das Zuviel an Salz riebele ich als bekennender Brezel-Esser in kultur- revolutionärer Heimlichkeit meist ab) und sollte auch nicht im Leibesumfang der Biergartenbesucher gemessen werden. Kultur lebt von Austausch und Wandel – Kräppel (ich bin Hesse!) und Brezeln waren den Germanen unbekannt – in den letzten 2 000 Jahren wurden wir immer wieder „geschmacklich umerzogen“!

Weiter geht das Lobby-Lamento: [die Vorschläge] „führen über kurz oder lang zu Produkten, die sich in Geschmack und Beschaffenheit kaum voneinander unterscheiden“. Liebe selbsternannte Hüter der Geschmacksvielfalt: Wann wart ihr das letzte Mal im Supermarkt? Eure Befürchtungen sind teilweise schon Realität – ohne Gesetz!

Also bitte ihr Süßen: Kultur lebt auch von Ehrlichkeit in der Diskussion. Macht mit eurer durchschaubaren Aufregung und euren rhetorischen Nebelkerzen (nicht Zucker und Fett, nein die bösen Kalorien sind‘s!) nicht die zarten Ansätze von Rezept-Reformulierungen zunichte, die es ja durchaus gibt, beteiligt euch konstruktiv und ermutigt lieber eure Koch- und Back-Kreativen mal zu neuen schmackhaften Rezepten mit weniger Zucker, Fett und Salz – sonst werde ich sauer.

Ihr Udo Maid-Kohnert

1 Eine zahnärztliche Bewertung dieser Innovation lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor.
2 WVZ Wirtschaftliche Vereinigung Zucker, Pressemeldung vom 15.06.2017
3 Nationale Reduktionsstrategie: Minister bringt Kulturgüter in Gefahr. BLL-Pressemeldung vom 15.06.2017
4 BMEL. Warum eine Nationale Strategie zur Reduktion von Zucker, Fetten und Salz in Fertigprodukten notwendig ist. URL: www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Hintergrundinfo %20Reformulierung.pdf?__blob=publicationFile Zugriff 19.06.17


Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 7/17 auf Seite M416.

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