Editorial 6/17: Esssucht? Lebensmittelsucht? …oder keins von beiden?

Es gibt viele Erklärungsansätze für die weltweit steigende Adipositasprävalenz und die Zahl der Menschen, die immer wieder weit über den Hunger hinaus essen: Die adipogene, also Adipositas-fördernde Umgebung, unsere (epi)genetische Ausstattung, biografisch verfestigte Verhaltensmuster und die zugrundeliegende Psyche samt Wissensstand des Einzelnen…

Seit einigen Jahrzehnten vermutet die Fachwelt in diesem Zusammenhang, dass auch ‚Food Addiction‘ als neue Facette von Sucht bzw. Essstörungen verantwortlich ist. Kontrovers diskutiert wird hierbei u. a., ob es sich eher um eine Esssucht, also suchtartiges Essverhalten und damit eine Verhaltensstörung handelt, oder ob es sich eher um eine Art von Substanzgebrauchsstörung handelt, also eine Sucht nach bestimmten (prozessierten) Lebensmitteln wie Süßigkeiten, Fast Food oder Einzelbestandteilen (Zucker, Fett, Salz) – oder gar um eine Überlappung von Verhaltensstörung und Substanzgebrauchsstörung.

Neben Tierexperimenten und neurokognitiven Humanstudien geht die ,Food-Addiction‘-Forschung auch den Zugangsweg über Fragebögen. Einer dieser Selbstauskunftsfragebögen steht im Mittelpunkt des Special-Beitrags von HAUCK und ELLROTT ab S. M330. Die Yale Food Addiction Scale (YFAS), die auch in deutschsprachiger Form vorliegt und klinischen Einsatz finden könnte, schätzt die psychische Disposition des Essverhaltens für einen möglichen Suchtkontext ab.

Bedenkt man die langen Debatten um die Anerkennung der Adipositas als eigenständige Krankheit (S. M312), dann ergibt sich die Frage: Welche Auswirkung hätte es, wenn ,Food Addiction‘ tatsächlich in die medizinischen Diagnoseschlüssel aufgenommen würde? Für das Gesundheitssystem (Prävention und Therapie), die Lebensmittelindustrie (Angebot und Werbung), die öffentliche Gesundheit und die evtl. Betroffenen (Stigmatisierung)? Da ,Food Addiction‘ in engem Zusammenhang mit der Diagnose „Essstörungen“ steht, ist eher davon auszugehen, dass sie innerhalb dieser Diagnose eine verfeinerte Beschreibung und Therapie ermöglichen könnte. ,Food Addiction‘ würde also nicht unbedingt mehr Fälle abbilden oder erfassen – ähnlich wie bei Burnout, das keine eigenständige Diagnose ist, sondern starke Überlappungen mit Depression aufweist. Also, nicht jeder, der bei Chips, Schokolade oder Pizza kein Ende finden kann oder will, wäre als „süchtig“ einzuordnen – zumal HAUCK und ELLROTT betonen, dass nur bei Leidensdruck eine „Diagnose“ gestellt werden könnte.

Klar ist: Essverhalten, overeating („Überessen“) und Adipositas sind komplexe Phänomene, was u. a. bedeutet, dass viele Komponenten Einfluss nehmen. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, sollten Ernährungsfachkräfte möglichst viele Komponenten kennen und verstehen – und eines dieser Puzzleteile scheint ,Food Addiction‘ zu sein. Informieren Sie sich also mit dem Special in diesem Heft!

Ihre Stella Glogowski



Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 6/17 auf Seite M305.

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