Editorial 12/2022: Ernährungsforschung – da geht noch mehr!

Im vielstimmigen Chor selbsternannter und echter ErnährungsexpertInnen sind regelmäßige Standortbestimmungen und Zieldefinitionen, aber auch Selbstreflexionen als Bezugsrahmen fachgerechten Handelns und wissenschaftlicher Arbeit sehr wichtig. Stellungnahmen und Positionspapiere sind hierfür entscheidende Publikationsformen, und die ERNÄHRUNGS UMSCHAU bietet hierfür aufgrund ihrer großen Reichweite eine gute Plattform.

„Alle, die sich mit der Zukunft befassen, von der lokalen bis zur globalen Ebene, sind sich einig darüber, dass die vordringlichste Aufgabe der Schutz der humanen, biologischen und physikalischen Ressourcen ist, um die langfristige Erhaltung des Lebens auf der Erde und das Wohl der Menschen zu gewährleisten. Die Ernährungswissenschaft kann dazu einen erheblichen Beitrag leisten.“
Nein, das Zitat stammt nicht von der aktuellen Weltklimakonferenz: Der Beitrag Die Gießener Erklärung zum Projekt Die Neue Ernährungswissenschaft von Claus Leitzmann und Geoffrey Cannon et al. erschien bereits im Februar 2006 in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU.1 Entscheiden Sie selbst, ob Politik und Gesellschaft bislang das Potenzial der zahlreichen Erkenntnisse im Ernährungsbereich ausreichend nutzen!
In diesem Jahr endet der Förderzeitraum der Kompetenzcluster Ernährungsforschung, ein kurzes Resümee der beteiligten Forschungsverbünde auf YouTube hat bislang knapp 800 Aufrufe – da geht noch mehr!2 Und die Frage stellt sich: Quo vadis Ernährungsforschung? Auf welcher finanziellen und strukturellen Grundlage? Aber vor allem auch mit welchen Fragestellungen, Methoden, Zielsetzungen – mit welchem Selbstverständnis?
Das Positionspapier „Perspektiven für die Ernährungsforschung 2022“3 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ab S. M662 in diesem Heft macht hier einen Aufschlag. Es benennt Themenfelder, beschreibt den methodischen Werkzeugkasten und betont nicht zuletzt die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit, die sich in den Kompetenzclustern bewährt hat. Zugleich greifen die AutorInnen bereits im Abstract des Positionspapiers die Gedanken der Gießener Erklärung auf, indem sie formulieren: „Ernährung ist ein zentraler Aspekt aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen [...]. Damit wir als Gesellschaft diese Herausforderungen erfolgreich adressieren können, brauchen wir eine innovative und interdisziplinäre Ernährungsforschung, die neue Lösungsansätze generiert und evaluiert“.
Das Positionspapier kann und wird hoffentlich eine gute Messlatte für neue Ausschreibungen und Forschungsprojekte sein. Ich hätte mir eine Prise mehr soziologische und kulturwissenschaftliche Ansätze gewünscht, auch im Sinne der im Text geforderten „kulturell akzeptierten Ernährungsempfehlungen“. Die Erforschung des „Totalphänomens Ernährung“ läuft sonst Gefahr, von rein medizinisch-naturwissenschaftlichen Ansätzen und data mining vereinnahmt, ja absorbiert zu werden. Bereits die Gießener Erklärung betonte daher: „Die biologische Dimension sollte deshalb eine der drei Dimensionen der Ernährungswissenschaft bleiben, die soziale und die ökonomische Dimension sollten gleichrangigen Stellenwert erhalten. Das übergreifende Prinzip ist ethischer Natur, das auch von Mitverantwortung, Nachhaltigkeit, Menschenrechten sowie Kenntnissen der Evolution, Geschichte und Ökologie geleitet werden sollte.“1
Da geht noch mehr!

Ihr Udo Maid-Kohnert

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1 Leitzmann C, Cannan G, de Fora J, Gerais M: Die Gießener Erklärung zum Projekt „Die Neue Ernährungswissenschaft“. Ernährungs Umschau 2006; 53(2): 40–3.
2 www.youtube.com/watch?v=wGPRdQhfb_s 
3 Linseisen J, Renner B, Buyken A et al. for the German Nutrition Society: Perspectives for nutrition research 2022. Position of the German Nutrition Society (DGE). Ernahrungs Umschau 2022; 69(12): 184–9.



Dieses Editorial finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 12/2022 auf Seite M641.

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