Starker Staat und/oder starke Bürger?

Wenn das Gespräch auf Ernährungsthemen kommt, reden gerne viele mit. Das ist im Privatleben so, beim Smalltalk am Rande gesellschaftlicher Ereignisse und nicht zuletzt in der Politik. Stehen dann noch „wichtige“ Wahlen bevor (wann ist das nicht der Fall?), werden Lösungsansätze für bestehende Ernährungsprobleme gerne zwischen den verschiedenen Interessengruppen ausgebremst, zerredet und zerrieben (=> Seite M176 in diesem Heft: „Bauernregeln“).

Doch lassen wir beiseite, bei welchem der zahlreichen Ressorts mit Ernährungsbezug (z. B. Umwelt, Verbraucherschutz, Finanzen, Bildung, Gesundheit, [Land]Wirtschaft oder ganz originär Ernährung) unser Kernthema Ernährung nun am besten aufgehoben ist: In unserem Special ab Seite M146 stellen Achim Spiller et al. den Instrumentenkasten der Ernährungspolitik vor. Die Autoren beleuchten dabei auch die gesellschaftlichen Mechanismen, die über Erfolg und Misserfolg ernährungspolitischer Maßnahmen mit entscheiden, denn „Legitimität bedeutet in einer Demokratie nicht nur wissenschaftliche Rechtfertigung, sondern auch Akzeptanz der Bürger.“

Und die hängt oft auch von Tagesereignissen oder lokalen Besonderheiten ab: Nach Terroranschlägen schnellt die Akzeptanz für mehr Überwachung und einen „stärkeren“ Staat regelmäßig nach oben. Hängt eine Vielzahl der Arbeitsplätze einer Region von Fleisch oder Zucker verarbeitenden Betrieben, von den letzten traditionellen Tabakbauern oder Werbeeinnahmen ab, sind Maßnahmen zum Gesundheitsschutz der Allgemeinbevölkerung gegen diese Teilinteressen vor Ort schwerer durchzusetzen.

Doch in Deutschland sterben deutlich mehr Menschen an den Folgen von Fehlernährung, Bewegungsmangel und Rauchen als durch Terroranschläge. Das Missverhältnis zwischen Werbebudgets für Kinderlebensmittel, Knabberzeug, Süßkram und XXL-Portionen und öffentlichen Mitteln zur Stärkung der Ernährungs- und Gesundheitskompetenz aller Bevölkerungsgruppen entlarvt die Parolen zur freiwilligen Selbstverpflichtung der betreffenden Anbieter oder das Verklären der „Ernährungssouveränität“ des Wählers bestenfalls als politische Mutlosigkeit, ist man weniger milde, könnte man Interessenkonflikte unterstellen.

Durch unser „Abstimmungsverhalten“ beim Einkauf, in sozialen Netzwerken und durch Feedback an Kunden-Hotlines und eigenes politisches Engagement haben wir viele Möglichkeiten, die Akzeptanz für ernährungspolitische Maßnahmen zu signalisieren. Unterstützen wir mutlose Politiker und Produktentwickler der Lebensmittelindustrie durch diesen Input – und hoffen wir, dass diese auch einen Blick in unser Special und die Fortsetzung im nächsten Heft werfen!

Ihr Udo Maid-Kohnert



Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 3/17 auf Seite M121.

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