Zu guter Letzt 06/15: Steinzeit-enge Vorschriften

Essen, wie Homo sapiens und seine Ahnen es während des Großteils ihrer Entwicklungsgeschichte als Jäger und Sammler getan haben – d. h. ausschließlich Lebensmittel, die man sammeln oder jagen kann, selbst zubereitet verzehren.

Das klingt befremdlich für die einen und verlockend für andere, die den industriell produzierten, fett- und zuckerüberladenen Massenlebensmitteln den Rücken kehren und dem Megatrend entsprechend „fit“ und „gesund“ leben wollen.

Warum nicht? Der Wunsch, sich gesund zu ernähren ist ja zentrales Anliegen der Ernährungsaufklärung. Und nach den Maßstäben der Paleo-Diät kann mann während der bereits eingeleiteten Grillsaison unbesorgt die Zähne in das ein oder andere Steak versenken – da gibt es schlimmere Einschränkungen. Trotzdem stellt sich mir die Frage: Warum geht der Mensch immer in die Extreme? Warum sind so oft Diäten, die Grundnahrungsmittel (hier: Getreide, Milchprodukte, Hülsenfrüchte) verbieten, ein Hit und mit dem mitgelieferten ideellen Hintergrund gleich ein weltweiter Bestseller?

Vielleicht, und so klang es auf dem kürzlich stattgefundenem 18. aid-Forum an, stehen dahinter die Sinnsuche des Menschen und das nachvollziehbare Streben nach Orientierung. In unserer offenen Gesellschaft müssen wir vieles selbst entscheiden, was früher für uns geregelt war, nach dem Motto „Müllers Sohn wird Müller“ oder „gegessen wird, was auf den Tisch kommt“. Heute muss alles ausgehandelt, immerzu der eigene Weg gesucht werden, sogar bei etwas so alltäglichem wie dem Essen. Das überfordert zuweilen unser Homo sapiens-Gehirn. Reduktion vereinfacht, und so bietet eine geschickt begründete Regel (am besten simpel, streng und/ oder exotisch) Orientierung.

Zur Paleo-Diät blieb mir die Feststellung von Dr. Amanda HENRY, Expertin für paläontologische Ernährungsforschung, auf dem diesjährigen DGE-Kongress im Kopf: „Not agricultural food is the problem, industrialized food is the problem“. Das lässt mich aufatmen, macht es doch im Sinne der Reduktion komplexer Lebensentscheidungen die gute Sache wieder einfacher: Statt auf Getreide, Milchprodukte und Hülsenfrüchte zu verzichten, würde es auch reichen, mehr selbst Zubereitetes und weniger Vorgefertigtes zu essen (und dabei, wie Professor HESEKER es im letzten Heft ausdrückte, eine „Dekalorisierung“ der Speisen anzustreben), das ist eine einfache „Regel“. Ich nenne es mal post-industrial diet.

Dazu noch ein Gedanke zur Evolution: Der menschliche Körper wurde im Lauf der Evolution auf eine gehende Lebensweise optimiert. Nicht auf Sitzen im Auto oder am Computer (auch nicht auf dem Fahrrad – das gibt es noch nicht so lange). Aber weil der menschliche Organismus mit einer großen Spannbreite unterschiedlicher Gegebenheiten zurechtkommt, kann er sich auch mit Fahrradfahren oder Yoga statt dem täglichen 15-km-Marsch gesund erhalten … Die Menschen – und da schließe ich mich an – lieben doch ihre vielfältigen Lebensformen.

Ihre Sabine Schmidt


Den vollständigen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 06/15 auf Seite M376.

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