Editorial 8/2017: Bereicherung

Das Leben kann ganz schön kompliziert sein. Zumindest ist es komplex. Vieles passiert gleichzeitig, steht in Wechselwirkung miteinander und ist zugleich Folge vergangener Ereignisse und Ursache für Abläufe in der Zukunft.

Naturwissenschaftler haben zum Umgang mit komplexen Systemen das Hilfsmittel der Reduktion entwickelt. Das war in Zeiten, als noch keine Hochleistungsrechner zur Modellierung komplexer Zusammenhänge verfügbar waren. Als es noch keine Algorithmen für Ansätze der Systembiologie gab. Der Trick bestand in der Zerlegung des Fakten-Knäuels zahlreicher Vorgänge in Teilprozesse.

Auch Ernährung kann ganz schön kompliziert sein. Denn auch sie ist komplex. Die naturwissenschaftliche Ernährungsforschung befindet sich daher in einem Dilemma: Einerseits kann sie die biochemisch-physiologischen Grundlagen und Teilprozesse der Ernährung mittlerweile in kleinsten Details beschreiben, andererseits bleibt sie den Beweis der Alltagsrelevanz dieser Erklärungen für die Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme, die mit Ernährung zu tun haben, teilweise schuldig. Ob Adipositas-Pandemie oder Hungersnöte, ob individuelle Geschmacksvorlieben oder mangelnde Lebensmittelkenntnis bzw. Kochkompetenz – hier kommen Wechselwirkungen menschlichen Zusammenlebens ins Spiel, von familiären Traditionen bis hin zur Weltpolitik, zu denen reine Naturwissenschaft keine Aussagen machen kann. Dies gilt für Politikberatung ebenso wie für die individuelle Ernährungsberatung.

Ein Physiker kann die Funktionsweise eines Atomkraftwerks beschreiben, aber er kann Politik und Gesellschaft die Abwägung von Chancen und Risiken dieser Technologie nicht abnehmen. Und ob wir Verbrauchssteuern auf zucker- und fettreiche Lebensmittel benötigen, ein Veggie-Day sinnvoll ist oder Schulfächer zur Förderung der Ernährungskompetenz ebenso wichtig wie MINT-Fächer1 sind, zu diesen Fragen kann die Ernährungswissenschaft nicht allein aus naturwissenschaftlicher Sicht Stellung beziehen. Auch schicke neue Disziplinen wie Metabolomics, personalisierte Ernährung oder Epigenetik ändern daran wenig.

In unserem Special-Beitrag ab Seite M436 beschreibt Jana RÜCKERT-JOHN, welchen Input die Ernährungssoziologie für die interdisziplinäre Ernährungsforschung geben kann. Es geht darum, Essen als soziales Handeln zu begreifen und ursächlich zu erklären. Damit dies gesellschaftlichen Nutzen stiftet, gilt es Berührungsängste der Spezialdisziplinen abzubauen, Schnittstellen gemeinsamer Forschung zu schaffen und nicht zuletzt, Fördermittel nicht nur am budgetierten High-Tech-Gerätepark eines Forschungsantrags auszurichten, sondern am Potenzial des Forschungsansatzes. Neue Perspektiven können unser Verständnis von Ernährung nur bereichern!

1 MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik

Ihr Udo Maid-Kohnert



Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 8/17 auf Seite M417.

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