Alimentum ultimum 7/01 ( Das letzte Gericht)

Johannes

Elvira war verwirrt. Und sprachlos. Das ist selten bei meiner Berliner Cousine. Es hatte eine Zeit lang gedauert, bis sie begriff, was da bei den Lindauer Psychotherapiewochen herausgekommen war. Dass sich die Psyche das Gehirn baut, nicht umgekehrt. Und dass Halt im Leben nicht die Lösung eines Problems gibt, sondern der Weg vom Problem zur Lösung. Elvira führte er nun schnurstracks zum Karaoke-Bike. Fröhlich sein und singen, hatte Ehemann Erwin ihr als Losung aus der Erinnerung an seine sächsische Jungpionierzeit noch mit auf den Weg gegeben. Mich hat man lange vorher im Gleichschritt unter Stahlhelm und Gasmaske marschieren und dabei singen lassen. Ich weiß also, wie man atemlos fröhlich singend schwitzt.

Deshalb konnte ich nachempfinden, was Elvira bewogen hatte, sich alsbald nach einem anderen Antiaging-Mittel umzusehen. Den Griff zum bislang nur amerikanischen Wachstumshormon-Cocktail machten Kanzleramtskuriere möglich. Alles war bestens, und Elvira verfiel selbst neben ihrem schnarchenden Erwin wieder wie ein Kind in Tiefschlaf. Bis die FAZ ausgerechnet am Tag der Bundestagsdebatte über die Forschung mit embryonalen Stammzellen und die Präimplantationsdiagnostik mit dem Nutrichip aufmachte. In ihrer Tageszeitung hatte Elvira die Jubilatio über das Brandenburger Großforschungsprojekt offenbar glatt übersehen.

Erwin, der noch den Antioxidantiencocktail und die neuen Gesundmacher des Dr. Kenneth H. Cooper von 1995 in unseliger Erinnerung hatte, gab sich jetzt informiert. Nutrigenomisch, wie er sagte. Obwohl er den Hintersinn des FAZ-Untertitels "Eine Kraftnahrung nährt die deutsche Genomforschung" nicht recht erfassen zu können vorgab, hatte Erwin aus dem Abstraktum "Nutrigenomik" bereits eilfertig ein Adverb konstruiert. Es auch adjektivisch zu benutzen, war nun zwar nicht mehr zu verhindern, wohl aber, ein Verb daraus zu bilden oder gar ein weiteres ernährungswissenschaftliches Präfix. Die FAZ tue den Brandenburger Wortschöpfern allerdings Unrecht, Berlins Innensenator Werthebach sei`s zugerufen, warf ich ein, wenn sie den neuen Begriff aus dem Englischen abgeleitet sehe. Vielmehr sei es eine Kombination aus dem lateinischen nutrire und dem Kunstwort Genom. Dieses wiederum sei ähnlich wie Chromosom (von chroma = Farbe und soma = Körper) aus dem griechischen ginos (g e n o z , Geschlecht, Gattung) sowie dem Fremdsuffix -ik zusammengefügt worden. Damit "wolle man den Menschen, seine Gene, sein Verhalten und seine Umwelt in einem Kontinuum betrachten" habe eine Sprecherin des Projekts für begriffsstutzige Journalisten klar gestellt. Ja, das musste es dann wohl gewesen sein, was Elvira die Sprache verschlagen hatte.EU07/01

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