Leserbrief II zum Beitrag „Algen und Algenprodukte als neuartige Lebensmittel“

Ein interessanter Übersichtsartikel von Jana Maria KNIES, der dazu beitragen möge, dass insbesondere Makroalgen als traditionelle Lebensmittel den einheimischen Speiseplan auch bereichern. Die Aussagen zu Vitamin B12 sind aus unserer Sicht jedoch zu unkritisch.

Der vermeintliche (hohe) Vitamin-B12-Gehalt bestimmter Algenarten wird seit Jahrzehnten von WATANABE und Mitarbeitern propagiert [1–4]. Er bezieht sich jedoch lt. WATANABE selbst praktisch ausschließlich auf die beiden Algengattungen Enteromorpha sp. und Porphyra sp. Beide werden auch als Nori bezeichnet. Andere Algen enthalten lt. WATANABE „zero or only traces of Vitamin B12“ [5]. Die angegebenen Vitamin-B12-Gehalte von Nori wurden mittels Laboranalysen gemessen. Wie im Beitrag dargestellt, stammen die bisher einzigen Belege für die Bioverfügbarkeit des Algen-Vitamin B12 aus In-vitro-Versuchen (mit Verdauungsenzymen bei definierten pH-Werten) sowie Fütterungsversuchen mit Vitamin-B12-mangelversorgten Ratten [6, 7]. WATANABE führt außerdem eine Studie mit sechs veganen Kindern (7–10 Jahre) an, bei denen aufgrund des regelmäßigen Verzehrs von Nori keine Vitamin-B12-Mangelsymptome gefunden wurden und deren Serum-Vitamin-B12-Werte sich nicht signifikant von der alters-gematchten Vergleichsgruppe unterschieden [8]. „Groß angelegte, kontrollierte Studien“ zu dem Thema sind daher nicht nur, wie im Beitrag formuliert „selten“, sondern bisher nicht vorhanden.

Auch eine Studie aus Südkorea berichtet von gemessenen Vitamin-B12-Gehalten in Nori und anderen Algen [9]. Diese haben möglicherweise zusammen mit traditionellen fermentierten Sojaprodukten und fermentiertem Chinakohl (Kimchi) auf dem Speiseplan von Hundertjährigen dazu beigetragen, dass in dieser Gruppe Vitamin-B12-Mangel deutlich seltener als erwartet auftrat.

Eine prospektive Studie über 8 Monate analysierte den Vitamin-B12-Status von Veganern (n = 10) bei Konsum von mind. 12 g Porphyra yezoenisis und 15 g getrockneten wilden Pilzen pro Woche. Eine vegane Kontrollgruppe (n = 20) erhielt Vitamin-B12-Supplemente, eine andere (n = 40) ernährte sich vegetarisch. Nach 8 Monaten waren fast alle Parameter des Vitamin-B12-Status (Holo-Transcobalamin [Holo-TC], Serum-Vitamin-B12, Methylmalonsäure [MMA]) signifikant schlechter als in den Kontrollgruppen, MMA war nicht mehr im Toleranzbereich [10].

In einer explorativen Studie (ohne Kontrollgruppe) führte die Gabe von täglich 9 g Chlorella pyrenoidosa (Mikroalge) über einen durchschnittlichen Interventionszeitraum von 60 Tagen bei 17 vegetarischen oder veganen Erwachsenen zu einer Verbesserung verschiedener Vitamin-B12-Parameter (z. B. signifikantes Absinken der MMA-Serumwerte um durchschnittlich 10 %) [11].

Es gibt demnach widersprüchliche Ergebnisse, aber durchaus Hinweise, dass einzelne Makround Mikroalgen „echtes“ Vitamin B12 enthalten, das für den Menschen nutzbar sein könnte. Dies müsste jedoch in kontrollierten Interventionsstudien mit passendem Design sowie statistisch ausreichender Probandenzahl untersucht werden (und es ist weiterhin unverständlich, dass diese Studien offenbar bisher noch nicht durchgeführt worden sind; es sei denn, alleine aufgrund fehlender Finanzierung).

Bis solche Studien die Frage geklärt haben, ob bestimmte Algen die Vitamin-B12-Versorgung von Veganern und Vegetariern sicherstellen können oder nicht, sollte nach unserer Ansicht deutlich zurückhaltender berichtet werden. Der jüngste Hype um vermeintliches Vitamin B12 aus Queckenwurzeln [12] zeigt, dass in Teilen der veganen Community jede neue angebliche pflanzliche Vitamin-B12-Quelle euphorisch bejubelt wird. Vor dem Hintergrund, dass auch unter Veganern in Deutschland der Vitamin-B12-Mangel weit verbreitet ist [13–15], sollte auf die notwendige zuverlässige Vitamin-B12-Supplementierung über Nahrungsergänzungsmittel (und/oder angereicherte Lebensmittel sowie Vitamin-B12-Zahncreme) hingewiesen werden. Eine „Freigabe“ der Algen als Vitamin-B12-Quelle ist nach unserer Einschätzung verfrüht.

Dr. Markus Keller1
M. Sc. Stine Weder2
1 Fachhochschule des Mittelstands
Hohenstaufenring 62
50674 Köln
E-Mail: keller@fh-mittelstand.de 
2 Institut für alternative und nachhaltige Ernährung
Am Lohacker 2
35444 Biebertal

Literatur
1. Watanabe F, Takenaka S, Katsura H et al. (1999) Dried green and purple lavers (Nori) contain substantial amounts of biologically active vitamin B(12) but less of dietary iodine relative to other edible seaweeds. J Agric Food Chem 47: 2341–2343
2. Watanabe F, Katsura H, Miyamoto E (1999) Characterization of vitamin B12 in an edible green laver (Entromopha prolifera). Appl Biol Sci 5: 99–107
3. Watanabe F, Takenaka S, Katsura H et al. (2000) Characterization of a vitamin B12 compound in the edible purple laver, Porphyra yezoensis. Biosci Biotechnol Biochem 64: 2712–2715
4. Watanabe F, Takenaka S, Kittaka- Katsura H et al. (2002) Characterization and bioavailability of vitamin B12-compounds from edible algae. J Nutr Sci Vitaminol (Tokyo) 48: 325–331
5. Watanabe F, Yabuta Y, Bito T, Teng F (2014) Vitamin B12-containing plant food sources for vegetarians. Nutrients 6: 1861– 1873
6. Miyamoto E, Yabuta Y, Kwak CS et al. (2009) Characterization of vitamin B12 compounds from Korean purple laver (Porphyra sp.) products. J Agric Food Chem 57: 2793–2796
7. Takenaka S, Sugiyama S, Ebara S et al. (2001) Feeding dried purple laver (nori) to vitamin B12-deficient rats significantly improves vitamin B12 status. Br J Nutr 85: 699–703
8. Suzuki H (1995) Serum vitamin B12 levels in young vegans who eat brown rice. J Nutr Sci Vitaminol (Tokyo) 41: 587–594
9. Kwak CS, Lee MS, Lee HJ et al. (2010) Dietary source of vitamin B(12) intake and vitamin B(12) status in female elderly Koreans aged 85 and older living in rural area. Nutr Res Pract 4: 229–234
10. Schwarz J, Dschietzig T, Schwarz J et al. (2014) The influence of a whole food vegan diet with Nori algae and wild mushrooms on selected blood parameters. Clin Lab 60: 2039–2050
11. Merchant RE, Phillips TW, Udani J (2015) Nutritional supplementation with Chlorella pyrenoidosa lowers serum methylmalonic acid in vegans and vegetarians with a suspected vitamin B(1)(2) deficiency. J Med Food 18: 1357–1362
12. veganes vitamin 12. URL: veganmagazin.de/2016/ veganes-vitamin-b12/ Zugriff 13.06.17
13. Herrmann W, Schorr H, Obeid R, Geisel J (2003) Vitamin B-12 status, particularly holotranscobalamin II and methylmalonic acid concentrations, and hyperhomocysteinemia in vegetarians. Am J Clin Nutr 78: 131–136
14. Keller M, Redemann B, Schumann L et al. (2013) Vitamin B12 status of German vegans and vegetarians. Poster; 6th International Congress on Vegetarian Nutrition
15. Siebert AK, Obeid R, Weder S et al. (2017) Vitamin B-12-fortified toothpaste improves vitamin status in vegans. A 12-wk randomized placebo-controlled study. Am J Clin Nutr 105: 618–625



Diesen Leserbrief finden Sie auch in Ernährungs Umschau 7/17 auf Seite M372.

Das könnte Sie interessieren
Medienumschau 4/2024 weiter
Social Media und der Einfluss auf die Gesundheitskompetenz weiter
Hochschule Osnabrück entwickelt Handlungsempfehlungen gegen Lebensmittelverschwendung weiter
Globale Ernährungswende würde Gewinne in Höhe von mehreren Billionen US-Dollar erzielen weiter
Wirkung von Ballaststoffen auf die Gewichtsreduktion weiter
Folsäure kann angeborene Fehlbildungen verhindern weiter