Kommentar von Prof. Smollich: #NutritionCoalition: Ein neuer Geist der Kooperation

Bereits kurz nach der Bundestagswahl am 26. September 2021 wiesen alle Zeichen in Richtung Ampelkoalition. Damit war klar, dass in den anstehenden Koalitionsverhandlungen Ernährungsthemen eine relativ hohe Priorität besitzen würden, insbesondere durch die Schnittmengen zur Umwelt-, Sozial- und Gesundheitspolitik. Erfahrungsgemäß ist die Zeit der Koalitionsverhandlungen häufig ein besonderes „window of opportunity“, um externe Impulse zu setzen und in der öffentlichen Wahrnehmung unterrepräsentierte Themen auf den Verhandlungstisch bringen zu können.

Um einen solchen Verhandlungsimpuls zu initiieren, fanden unmittelbar nach der Bundestagswahl informelle Gespräche zwischen verschiedenen Verbänden und Organisationen im Bereich Ernährung statt. Diese Gespräche waren von gegenseitigem Vertrauen, Kooperationsbereitschaft und Wertschätzung getragen. Allen gemeinsam war das inhaltlich motivierte Anliegen, den besonderen Zeitpunkt im Sinne der überfälligen Ernährungswende zu nutzen. Die verantwortlichen VerhandlerInnen der zukünftigen Ampelkoalition sollten auf die dringenden Baustellen unseres Ernährungssystems aufmerksam gemacht werden. Darüber hinaus war allen Beteiligten klar, dass sich gemeinsame Stellungnahmen nicht darauf beschränken können, ausschließlich auf vorhandene Missstände und Systemfehler hinzuweisen. Vielmehr sollten konkrete, lösungsorientierte Handlungsvorschläge gemacht und fachliche Unterstützung bei der politischen Umsetzung angeboten werden.
Unter dem Hashtag #NutritionCoalition kamen dazu folgende Institutionen zusammen: das Bundeszentrum für Ernährung (BZfE), die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM), die Deutsche Gesellschaft der qualifizierten Ernährungstherapeuten und Ernährungsberater e. V. (QUETEB), der Verband der Diätassistenten (VDD), der Berufsverband Oecotrophologie e. V. (VDOE), der Verband für Ernährung und Diätetik e. V. (VFED) und das Institut für Ernährungsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig- Holstein.
So unterschiedlich die Interessen dieser einzelnen Akteure im Alltagsgeschäft auch sein mögen: Die unkomplizierte und zielorientierte Kooperation als #NutritionCoalition kann man durchaus als positives Signal dafür nehmen, dass die gemeinsame Sache wichtiger ist als die eigene Profilierung.
Um realistisch zu sein: Von den Kernforderungen der #NutritionCoalition findet sich im Koalitionsvertrag – abgesehen von wenig konkreten Aussagen zu den Ernährungsanteilen von Public Health – nur sehr wenig wieder. Doch das ist höchstens auf den ersten Blick enttäuschend. Schließlich muss man sich klarmachen, dass die VerhandlungspartnerInnen im Oktober/November 2021 aus politischen Gründen unter sehr hohem Zeitund Erfolgsdruck standen, weshalb viele Themen zugunsten eines schnellen Vertragsschlusses nach hinten verschoben wurden. Für die Ernährungsthemen heißt das: Es wurde vereinbart, bis 2023 eine „Ernährungsstrategie“ zu beschließen. Wie diese Strategie aussehen kann und was sie beinhalten soll, ist völlig offen. Und genau das ist eine riesige Chance.
Denn mit dem Hinweis auf die zu entwickelnde „Ernährungsstrategie“ wurde den ErnährungsexpertInnen der Koalitionsparteien ein Jahr Zeit für weitere Detailverhandlungen ermöglicht. In den nun folgenden Monaten muss diese „Ernährungsstrategie“ mit Inhalten gefüllt werden – und dazu liefert die Stellungnahme der #NutritionCoalition die Blaupause. Die Herausforderung, möglichst viel davon in der „Ernährungsstrategie“ der Bundesregierung unterzubringen, ist sicherlich groß. Doch der neue Geist von Vertrauen und Kooperation zwischen den Verbänden gibt Anlass zur Hoffnung, dass diese Akteure auch in den kommenden Monaten an einem Strang ziehen werden, wenn es um die politische Konkretisierung der „Ernährungsstrategie“ gehen wird.



Prof. Dr. rer. nat. Martin Smollich

Institut für Ernährungsmedizin
Leiter AG Pharmakonutrition
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein


 

 

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