Vom Wissen zum Handeln: Referenten des 1. BZfE-Forums stellen Forderungen an die Politik

(scs) Zu seinem ersten Forum lud das in diesem Jahr neu gegründete Bundeszentrum für Ernährung (BZfE)1 Ernährungsfachkräfte am 19. September nach Bonn ein. Es setzte damit die Tradition des „aid Forum Ernährung“ fort, das der inzwischen aufgelöste aid-infodienst bisher jährlich angeboten hatte.

Treffend! Susanne FERRARI zeichnete Inhalte des Tages mithilfe von Grafik Reporting live mit
Treffend! Susanne FERRARI zeichnete Inhalte des Tages mithilfe von Grafik Reporting live mit. © Tobias Vollmer/BLE

Unter der Überschrift „Vom Wissen zum Handeln. Herausforderung für die Ernährungskommunikation“ bot das Bundeszentrum eine Reihe hochrangiger Referentinnen und Referenten, die – das vorweg – allesamt interessante, gut aufbereitete Vorträge zum Thema hielten. Dr. Margareta BÜNING-FESEL begrüßte die Gäste mit dem Aufruf, sich am Ideenwettbewerb des BZfE „Vom Wissen zum Handeln: Gut essen einfach machen“ zu beteiligen (s. unten).

Die Begrüßung von Seiten der Wissenschaft übernahm Prof. Ulrike ARENS-AZEVÊDO, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, mit einer gerafften Übersicht über die Ernährungssituation der Deutschen. Interessant waren dabei u. a. die neueren Zahlen zur Übergewichtsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen: Die Daten der KiGGS Welle 12 zeigten keine Steigerung der Übergewichtsprävalenz mehr. In die gleiche Richtung deuten die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen. ARENS-AZEVÊDO zeigte sich vorsichtig optimistisch, auch wenn die Zahlen weiterhin auf einem unerwünscht hohen Niveau sind. Mit Spannung können die Daten der in der Auswertung befindlichen KiGGS Welle 2 erwartet werden.

Nicht neu, aber auffallend deutlich bei gleich einer Reihe von Ernährungsfaktoren, ist die soziale Schieflage der Ernährungssituation: Sowohl die Übergewichtsprävalenz als auch u. a. Gemüse- und Obstverzehr bei Kindern stehen in einem ausgeprägten Zusammenhang mit der sozioökonomischen Lage der Familie. ARENS-AZEVÊDO forderte daher auch, beim zukünftigen Handeln in der Gesundheitsförderung besonders betroffene Zielgruppen mit niedrigem sozioökonomischen Status in den Fokus der Maßnahmen zu stellen und dabei noch viel mehr als bisher die Arbeit in Settings, d. h. die Verhältnisprävention, in den Vordergrund zu rücken.

Als ganz eigene „Wünsche“ äußerte sie auf Nachfrage des Moderators Sven PREGER, den DGE Qualitätsstandard in der Verpflegung in Kitas und Schulen gesetzlich verpflichtend zu machen, Kita- und Schulessen generell kostenfrei anzubieten und eine Ernährungskommunikation für alle Zielgruppen, auch die sog. bildungsfernen, zu entwickeln.

Mängel in der aktuellen Ernährungskommunikation konstatierte auch Jasmin GODEMANN, Professorin für Kommunikation und Beratung in den Agrar-, Ernährungs- und Umweltwissenschaften der Uni Gießen. Ernährungskommunikation würde oft einseitig verstanden, als Einbahnstraße von „Aufklärern“ zu „Aufzuklärenden“. Kommunikation sei aber ein vielschichtiger und dynamischer Prozess zwischen den Kommunikationsteilnehmern. Dies zeige sich besonders anschaulich in sozialen Medien: Dort wird deutlicher als früher, dass Verbraucher Inhalte nicht nur empfangen, sondern mitkommunizieren, indem sie Inhalte erzeugen, weitergeben, interpretieren und diskutieren. Dies würde aber bisher kaum berücksichtigt und von Fachleuten eher lästig als helfend empfunden. Für eine nachhaltige, wirksame Ernährungskommunikation sei aber das Einbahnstraßendenken, der einseitige Wissenstransfer, nicht länger ausreichend. Die Kommunikation über Ernährung müsse vielmehr als gesellschaftliche Verständigung betrachtet und als Austausch aller Akteure organisiert werden.

=> Einen Beitrag zu diesem Thema von Prof. GODEMANN finden Sie demnächst in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU.

Den Lesern der Ernährungs Umschau bereits bekannt ist Prof. Achim SPILLER, Göttingen. Er stellte seine sehr interessante Analyse ernährungspolitischer Instrumente vor. Gleich der Titel verriet: „It’s all in the mix!“. SPILLER zeigte, unter welchen Voraussetzungen bestimmte politische Instrumente wie Steuern wirksam sind und warum sie, vergleichbar dem „Marketing-Mix“, kombiniert werden sollten, um (größtmögliche) Effekte zu bringen. Der Mix dürfe sich darüber hinaus nicht auf die Instrumente beschränken, sondern weitere Dimensionen wie verschiedene gesellschaftliche Zielgruppen und Settings einbeziehen. Und schließlich sei auch der schönste Mix nichts wert, wenn dahinter nicht eine politische Strategie stehe. Eine solche auszuarbeiten sei dringliche Aufgabe der Ernährungspolitik.

Forderungen an die Politik stellte auch Prof. Manfred J. MÜLLER, Kiel. Kinder (und Erwachsene) seien hierzulande ihrer adipogenen Umwelt und dem Überfluss an (ungesunden) Lebensmitteln einer einflussreichen Lebensmittelindustrie ausgesetzt. Dabei würde der politische Wille fehlen, die Wirtschaft wirklich in die Verantwortung zu nehmen. Verhaltensbezogene Maßnahmen hätten sich in der Primär- und Sekundärprävention von Übergewicht bei Kindern als nur sehr eingeschränkt oder nicht wirksam erwiesen. Die soziale Ungleichheit auch im Gesundheitsbereich verschärfe das Problem für besonders vulnerable Zielgruppen. Die Wissenschaft wiederum könne ihren Einfluss auf die Politik zu wenig geltend machen, weil sie inhaltlich und strategisch untereinander nicht einig sei. Er forderte daher, dass sich Wissenschaftler im Ernährungsbereich nicht mehr nur um immer neue Studien zu eigentlich bekannten Zusammenhängen kümmern sollten3. Die Wissenschaft sei herausgefordert, sich gemeinsam aufzustellen, um einheitliche Forderungen an die Politik stellen zu können, die v. a. auf die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten abzielen müssten.

Prof. Britta RENNER, Konstanz, machte in ihrem sehr dichten Vortrag anschaulich, warum die häufig eingesetzten rationalen Informationen in der Gesundheitsförderung (zu) wenig bewirken: Unser „Autopilot“ ordnet Lebensmittel bereits als „will ich“ oder „will ich nicht“ ein, bevor uns dieses bewusst ist. Nur ein kleinerer Teil der Entscheidungen über Essen und Trinken wird bewusst getroffen; hauptsächlich wird das Essverhalten durch die eigene Persönlichkeit, durch Verzehrsituation, Portionsgrößen und viele andere nicht oder kaum bewusst wahrgenommene Faktoren gesteuert. Um Verhalten zu ändern, seien daher einfache Verhaltensimpulse – am besten „just in time“, nahe der Verzehrsituation – wirksamer als umfangreiche Regeln. Weiterhin forderte sie dazu auf, sich in der Ernährungskommunikation stärker auf die positive Seite gesunden Essens zu konzentrieren und die Steigerung des Wohlgefühls der Menschen durch ein bestimmtes Essen („eating happiness“) zu betonen.

Diesen Ansatz verfolgt auch Matthias HASTALL, Professor für Gesundheitskommunikation an der TU Dortmund, der überaus überzeugend die negativen Folgen einer zu direktiven Gesundheitskommunikation darlegte. Menschen würden natürlicherweise dazu neigen, auf Einflussversuche von außen zunächst abwehrend zu reagieren. Das Phänomen der „Widerspenstigkeit“ (Reaktanz) der Menschen, das von Ärzten und auch Akteuren der Ernährungsaufklärung immer wieder beklagt wird, erklärte er als ganz normales Schutzverhalten. Menschen würden nur auf diese Weise reagieren, wenn sie sich in ihrem Wesen oder ihrem Verhalten bedroht oder abgewertet fühlten. Dies sei bei „du isst nicht gut genug“ der Fall. Die abwehrende Reaktion hilft, die eigene Aufmerksamkeit von solch bedrohlichen oder unangenehmen Reizen, die wiederum unangenehme Gefühle verursachen, abzulenken. HASTALL präsentierte eine Vielzahl typischer Abwehrmechanismen wie Leugnen, Verdrängen, unrealistischer Optimismus, Ausblenden der unangenehmen Fakten oder Abwertung der Glaubwürdigkeit.
Und nicht nur die Zielgruppen, auch die Multiplikator/-innen seien „widerspenstig“ gegenüber Veränderung – sie würden dazu neigen, diese negativen Effekte ihrer Aufklärungsbemühungen zu leugnen oder zu verdrängen. Auch er regte an, sich stärker auf positive Impulse zu konzentrieren, um das Gesundheitsverhalten der Angesprochenen nicht weiter zu verschlechtern und zeigte eine Reihe von positiven Dimensionen des Wohlbefindens, an denen angesetzt werden kann.

Als Fazit der Veranstaltung fasste Margareta BÜNING-FESEL zusammen, dass es für die Bewältigung der Herausforderungen ernährungsmitbedingter Erkrankungen nicht ausreicht, „Broschüren zu verteilen“, da diese nur bewusste Handlungen, nicht aber den „Autopilot“ der Ernährungsentscheidungen erreichen. Gefordert seien für eine moderne Ernährungskommunikation und -politik interdisziplinäre Zusammenarbeit, der Austausch mit allen gesellschaftlichen Akteuren und Zielgruppen und ein strategischer Mix aus verhältnis- und verhaltensbezogenen Maßnahmen aller gesellschaftlichen Ebenen. „Health in all policies“, ergänzte sie, sei als Forderung schon in der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation von 1986 enthalten gewesen und daher nicht neu, sondern bisher nur zu wenig verfolgt worden.

1 => Das neue Bundeszentrum für Ernährung: Politische Akteure rücken stärker ins Blickfeld. Interview mit Margareta BÜNING-FESEL. Ernährungs Umschau 4/2017, S. M210
2 Nachfolgeerhebung 2009–2012 zur KiGGS-Basiserhebung (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland 2003–2006)
3 MJ Müller: Ernährungs- und Lebensmittelforschung – werden wir den gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht? Ernährungs Umschau 5/2017, S. M283



Anmerkung der Autorin:

Das erste BZfE-Forum zeigte, dass wir hierzulande vieles haben, was wir brauchen, um Menschen ein gesünderes Leben möglich zu machen: umfangreiche wissenschaftliche Daten, die Erkenntnis, dass soziale Ungleichheit (nicht nur) eines der größten Gesundheitsprobleme ist, Ideen für politische Steuerungsinstrumente und schließlich Geld, das wir bei den Krankheitskosten sparen, wenn Menschen gesünder leben. Was wir noch brauchen, ist eine reformierte, erweiterte Auffassung von Ernährungskommunikation, einen Konsens und gemeinsames Auftreten von im Moment konkurrierenden Wissenschaftlern und Institutionen sowie engagierte Politiker, die statt parteipolitisch motivierter Einzelprojekte und wechselnder Förderungen eine mit der Wissenschaft abgestimmte Gesamtstrategie zur Verbesserung der bekannten Ernährungsprobleme umsetzen. Konkrete Schritte, wie ein solch strategisches Vorgehen organisiert werden kann, wurden mangels Diskussionszeit auf dem eintägigen Forum nicht weiter herausgearbeitet; sie sind sicherlich das wichtigste Thema für die zukünftige Arbeit des BZfE. Vom Wissen zum Handeln ist es dabei ein weiter Weg.



Beim Ideenwettbewerb „Vom Wissen zum Handeln: Gut essen einfach machen“ können gute Ideen, Konzepte und Projekte eingereicht werden, mit denen der Bevölkerung gesundheitsförderliches Essen und Trinken erleichtert oder nahegebracht wird.
=> Ernährungs Umschau 10/2017, S. M549; Online-Meldung vom 20.09.2017



Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 11/17 auf den Seiten M608 bis M609.

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