Zu guter Letzt 6/2018: … das kommt mir spanisch vor

Wer kennt es nicht, das hohe Lied von der gesunden Mittelmeerkost, die seit Ancel KEYs berühmter „Sieben-Länder-Studie“ – durchgeführt in den 1950er und 1960er Jahren an langlebigen und von chronischen Krankheiten verschonten Landbevölkerungen des Mittelmeerraums – inzwischen Eingang gefunden hat in unsere Standardlehrbücher.

In romantischer Verklärung gilt seitdem die traditionelle mediterrane, vegetarisch geprägte Ernährung als das Ideal einer gesunden Ernährung und als Inbegriff eines guten und langen Lebens: reichlich Gemüse und Obst, Getreideprodukte wie (Vollkorn-)Brot und -Pasta, Reis und Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Nüsse und Samen, frische Kräuter und Knoblauch, Seefisch und Meeresfrüchte, weißes anstelle von rotem Fleisch, mäßiger Verzehr von Milchprodukten, Eiern und Käse, wenig Wurst und tierische Fette, aber natürlich reich an Olivenöl sowie regelmäßig-mäßigem Rotweinkonsum. Siesta, Dolce Vita, intakte Familienverbände und eine energetisch eher knappe Ernährung bei reichlich körperlicher Bewegung dürften ebenfalls zur hohen Gesundheits- und Lebenserwartung des KEYschen Untersuchungskollektivs beigetragen haben.

In den letzten Jahren haben wir uns auf Spurensuche gemacht, um uns von der traditionellen mediterranen Küche inspirieren zu lassen. Zahlreiche kulinarische Reisen führten uns zu den Speisekarten in den Dörfern der Kykladen und auf der Chalkidiki-Halbinsel, an die Gestade des Mittelmeeres in Kroatien, Slowenien, Italien und der Provence, zum Kennenlernen der Gastronomie Sardiniens und Marokkos und zuletzt zu den weißen Dörfern und Städten Andalusiens.

Und egal wo – es kam uns mehr als spanisch vor –, nicht nur in touristischen Hochburgen, sondern auch auf dem Land, ist die traditionelle authentische Mittelmeerküche eindeutig in den Hintergrund geraten und wäre zur Unkenntlichkeit geschrumpft, wenn nicht auf jedem Tisch, an dem wir gesessen haben, eine Flasche Olivenöl gestanden hätte. Inzwischen isst man dort fast genauso ungesund wie im Rest der (westlichen) Welt, mit vielen energiedichten Speisen und viel Frittiertem, viel Fleisch und tierischem Fett, mit relativ wenig Salat und Gemüse und reichlich Rot-, Rosé- und Weißwein. Nur in Küstengebieten und auf Inseln dominiert tatsächlich manchmal noch der Fischverzehr. Und immerhin sind die Speisen dort (noch) deutlich weniger gesalzen als bei uns.

Anspruch und Wirklichkeit der als Mittelmeerkost postulierten Ernährungsweise und der tatsächlich praktizierten Alltagskost der Mittelmeerbewohnenden klaffen weit auseinander und das Gesundheitsideal einer einfachen, gesundheitsförderlichen Mittelmeerküche scheint nur noch ein Mythos zu sein. Offenbar ist die „Mediterranean Diet“ zu einem Marketingbegriff der Olivenöl- und Rotweinlobby degeneriert – schade.

Ihr Helmut Heseker



Diesen Artikel finden Sie wie auch die Vorschau in Ernährungs Umschau 6/2018 auf Seite M352.

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