Nachschlag: Der imperfekte Mensch

Hunderttausende von Jahren hatte die Gattung Homo Zeit, sich anzupassen an unterschiedlichste geografische und klimatische Bedingungen sowie die Nutzung heterogenster Nahrungsquellen.

Dabei hat die Evolution durch Mutation und Selektion es zwar so gut mit uns Menschen gemeint, dass wir nahezu überall auf der Erde leben und überleben können. Aus Sicht der Biologie reichte es aber aus, zur Arterhaltung lediglich ein Alter zu erreichen, das für eine erfolgreiche Weitergabe der Gene durch Fortpflanzung und Aufzucht der Nachkommen ausreichte. Entsprechend wurden unser Körper und unser Genom nur hierfür optimiert. Langlebigkeit und gute Gesundheit im Alter waren in der menschlichen Evolution offenbar nie vorrangige Ziele der Natur. Nach der Zeit erfolgter Fortpflanzung leben wir nur deshalb noch eine Zeitlang weiter, weil die Sicherheitsreserven zum Erreichen des Fortpflanzungsziels sehr reichlich bemessen sind und weil beim Ausfall der Mutter die Großmütter zur Betreuung der Brut gebraucht wurden.

Spätestens mit dem Ende des steinzeitlichen Jäger- und Sammlerlebens unserer Vorfahren, dem Sesshaftwerden mit gezielter Agrarproduktion und Domestikation von Tieren haben wir auch Fähigkeiten entwickelt, die Umwelt unseren Bedürfnissen anzupassen. Durch die zunehmende Nahrungssicherheit, verbesserte hygienische Bedingungen sowie naturwissenschaftliche und medizinische Fortschritte ist es uns schnell gelungen, viel älter zu werden, als dies aus evolutionsbiologischer Sicht jemals vorgesehen war. Somit stellt sich die Frage, wie gut unser Körper eigentlich auf ein heute mögliches, sehr langes Leben vorbereitet ist. Immer mehr werden die zahlreichen Schwachstellen unseres Körpers sichtbar: Muskeln und Knochen, die mit dem Älterwerden an Masse und Belastbarkeit verlieren, Ohren mit anfälligen Hörzellen, steifer werdende und sich eintrübende Augenlinsen, eine zu schwache Verbindung zwischen Netzhaut und Sehnerv, unzureichende Lebensdauer von Gehirnzellen, Krampfaderneigung der Beinvenen, Abnahme der Hautgeschmeidigkeit, Arteriosklerose, anfällige Bandscheiben und Gelenke sowie überproportionalen Fettreserven, die in (nicht mehr eintretenden) Hungerzeiten das Überleben sichern sollten. Dazu ein Pankreas, das den heute üblichen glykämischen Belastungen energiedichter Lebensmittel nicht immer gewachsen ist, eine alkoholempfindliche Leber und ein Magen mit einem bei einem inaktiven Lebensstil überdimensionierten Fassungsvermögen.

Sicherlich, zur Kompensation vieler dieser Schwächen hält die Medizin(- technik) inzwischen ein umfangreiches Ersatzteillager und Pharmaka bereit. Vor dem Hintergrund der mangelhaften Anpassung unseres Körpers an heute vorherrschende Lebensbedingungen ist es aber nur klug, von unserer reichlich vorhandenen Gehirnkapazität Gebrauch zu machen, rechtzeitig einen pfleglichen Umgang mit dem eigenen Körper zu suchen, wichtige Präventionsmaßnahmen für sich zu nutzen und die bestehende, maximale Magenkapazität nicht zu oft durch einen weiteren Essensnachschlag auszutesten.

Helmut Heseker



Diesen Artikel finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 2/2021 auf Seite M120.

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