Schulessen: Die Mensa als kulturelle Arena der SchülerInnen

(scs) Das Schulessen steht unter öffentlicher Beobachtung, seit immer mehr Kinder in Deutschland mittags in der Schule verköstigt werden. Staatlicherseits sind v. a. „die Bemühungen groß, die Verpflegungsqualität zu optimieren und Schulverpflegung als Gesundheitserziehungsmaßnahme zu nutzen“.

Diese Meinung vertritt Prof. Lotte Rose, Erziehungswissenschaftlerin an der Frankfurt University of Applied Sciences (FUAS). Sie weist darauf hin, dass in der derzeitigen Diskussion um die Qualität des Schulessens zu wenig Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird, was das Schulessen eigentlich für die essenden jungen Menschen bedeutet: Was erleben Schülerinnen und Schüler in der Mensa, wie eignen sie sich diesen Raum an, was tun sie miteinander und mit den Speisen und welche Rolle spielen bei alledem die erwachsenen Fachkräfte?

Diesen Fragen ging daher das Forschungsprojekt „Doing Gender und Doing Diversity am Mittagstisch. Eine Untersuchung von Verpflegungssituationen in pädagogischen Einrichtungen“ an der FUAS nach. An 6 Schulstandorten, darunter sowohl Mensen weiterführender Schulen als auch betreutes Essen in Grundschulen, wurden teilnehmende Beobachtungen des Mittagessens durchgeführt und ethnografisch dokumentiert. Der Forschungsblick richtete sich dabei auf das Schulessen als „Schulraum“, der – wie Klassenzimmer, Schulhof oder Bushaltestelle – ein Ort von Kinder- und Jugendkultur ist. „Schülerinnen und Schüler versuchen hier wie an den anderen Schulorten auch, ihr ‚eigensinniges Leben‘ durchzusetzen – innerhalb der bestehenden institutionellen und pädagogischen Rahmen, aber auch oft genug gegen diese“, erläutert Rose.

In den Beobachtungen wurde erfasst, wie sich SchülerInnen mit Speisen, Räumen und Möbeln arrangieren, u. a., wie sie diese kreativ „umnutzen“. Eine große Rolle haben hierbei den ForscherInnen zufolge Spieltätigkeiten inne – auch das Essen selbst wird zur Spielressource: Es wird ausprobiert, wer wieviel in welcher Geschwindigkeit verschlingt, ob eine Kartoffel auch ohne Kauen runtergeschluckt werden kann, wann der Hähnchenknochen bricht. Speisen werden auf dem Teller „umgearbeitet“, z. B. beim Zermatschen der Kartoffeln mit Ketchup, oder sie werden gänzlich ungenießbar gemacht, z. B. durch Verunreinigungen.

Beobachtet wurden auch die Konversation am Tisch sowie Konflikte in der Peergroup und zwischen den Generationen. „Die Frage, wer wo mit wem beim Mittagessen sitzt, erweist sich als hochrelevant und gleichzeitig als diffizile Herausforderung. In kürzester Zeit müssen schließlich Tischpartner/- innen gefunden, Stühle und Tische reserviert und gleichzeitig das Essen organisiert werden – eine sozial stressende Situation, die jeden Tag neu bewältigt werden muss“, betont Rose.

Auch die Frage, wie Gesundheit als normative Leitfigur des Schulessens argumentativ „aufgestellt“ und was aus dieser Leitfigur im Praxisalltag des Schulessens wird, wurde aufgegriffen. Die Beobachtungen ergaben, dass „das Gebot des Wassertrinkens erfolgreich durchgesetzt ist, das Gemüse als Gesundheitssymbol aber zwischen den Generationen sozial umkämpft bleibt: Kinder verweigern sich, während Erwachsene sich alle Mühe geben, die Kinder davon zu überzeugen, das Gemüse zu essen.“

Charakteristisch sind für die WissenschaftlerInnen die beiden Formate des Schulessens: Das von Erwachsenen betreute Essen an einer gemeinsamen Tafel für die Jüngeren versus das kantinenförmig organisierte Mensa-Essen für die Älteren. Ersteres ist stark bestimmt durch das Ideal der Mahlzeit nach bürgerlich-familialem Vorbild. Dazu gehören das Händewaschen vor dem Essen, die gemeinsame Versammlung am Tisch, der gemeinsame Beginn und ein geregeltes Ende der Mahlzeit. Erwachsene überwachen die Tischsituation, sie weisen an, mahnen, rufen zur Ruhe auf, regulieren die Konversation, sanktionieren und animieren zum Essen.

Die Mensa folgt demgegenüber einem individualisierteren und liberaleren Modus. SchülerInnen sind hier sich selbst überlassen, was die Gestaltung des Essens betrifft. Es finden sich zwar noch Essensgruppen zusammen, aber alles ist informeller: Man kommt und geht, beginnt zu essen, wenn man seinen Platz hat, steht auf, wenn man will. Auch die Manieren sind unkonventioneller: Es wird gespielt, gestritten, geärgert, gealbert, geschrien, Essen wird verschenkt, geteilt, geklaut, verunreinigt oder auf dem Teller zurückgelassen. Während bei den Jüngeren also viel Wert auf bürgerliche Essenserziehung und eine geregelte Mahlzeit gelegt wird, sind bei den Jugendlichen aus unterschiedlichen Gründen „erzieherische Ansprüche“ verschwunden.

Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind in einem Buch [1] zusammengefasst, welches im Stil einer ethnografischen Sozialreportage „erzählen will von dem, was sich an den Ausgabetheken und Tischen ereignet.“

Literatur:
1. Rose L, Seehaus R (Hg). Was passiert beim Schulessen? Ethnografische Einblicke in den profanen Verpflegungsalltag von Bildungsinstitutionen. Springer VS Verlag, Wiesbaden (2019)

Quelle: Frankfurt University of Applied Sciences, Pressemeldung vom 19.11.2018



Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 2/2019 auf Seite M66.

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