Stellungnahme: Säuglingsnahrung aus Ziegenmilch

  • 23.06.2004
  • News
  • Redaktion

Säuglingsnahrung aus Ziegenmilch: Ist sie sicher und zur Therapie der Kuh- und Sojamilchallergie geeignet?Berthold Koletzko1, Michael J. Lentze2 1Universitätskinderklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital, Lindwurmstr. 4, 80337 München, 2Zentrum für Kinderheilkunde des Universitätsklinikums Bonn, Adenauerallee 119, 53113 Bonn Im Juni 2004 erhielten viele Kinder- und Jugendärzte eine Aussendung der Firma Blauer Planet, Hedemünden, mit einem aufwändig gestalteten Werbeprospekt, in dem für die Produkte „Bambinchen 1“ und „Bambinchen 2“ geworben wurde. Wesentliche Aussagen dieser Aussendung halten wir für irreführend und möchten deshalb hier dazu Stellung nehmen. Im Anschreiben zur erfolgten Aussendung wird ausgeführt „Kuh- und Sojamilch-Unverträglichkeiten nehmen täglich zu. Alleine in Deutschland leiden über 10 Millionen (!) Menschen darunter.“ Die hier postulierte Prävalenz der Kuh- und Sojamilch-Unverträglichkeit von etwa 12,5 % der Bevölkerung lässt sich nicht bestätigen. Im Gegenteil zeigen zahlreiche Studien eine Kuhmilchallergie nur bei 2–5 % aller Säuglinge (1), während die Häufigkeit der Sojamilchallergie in Deutschland bei geringer Verbreitung von Sojanahrungen weit unter 1 % liegen dürfte. Im Kindes- und Erwachsenenalter ist die Prävalenz der Kuhmilcheiweiß- und Sojamilcheiweißallergien noch deutlich seltener als bei Säuglingen. In der Aussendung wird weiter die falsche Aussage getroffen „Säuglinge, die auf Kuhmilch reagieren, erhalten heute meist HA-Nahrung auf Kuh- oder Sojamilchbasis ...“. Richtig ist, dass Säuglinge mit einer Kuhmilcheiweißallergie nicht eine HA-Nahrung auf der Basis eines milden Eiweißhydrolysates erhalten, sondern mit therapeutischen Nahrungen auf der Basis von extensiven Eiweißhydrolysaten oder Aminosäuremischungen therapiert werden (1). Die angesprochenen HA-Nahrungen auf Sojamilchbasis sind in Deutschland überhaupt nicht erhältlich. In der ausgesandten Broschüre wird weiter suggeriert, die vorgestellte Nahrung auf Ziegenmilchbasis sei sicher und effektiv. Als Beleg werden sechs Referenzen zitiert, davon sind lediglich zwei Zeitschriftenartikel, während die übrigen vier Zitate auf unveröffentlichte Mitteilungen und Kongressbeiträge verweisen. Unveröffentlichte Mitteilungen wurden nicht dem „Peer-Review-Verfahren“ unterzogen und werden deshalb in seriösen Zeitschriften üblicherweise nicht als Zitate akzeptiert. Die Grundlage der hier postulierten Schlussfolgerungen ist also nicht überprüfbar.  Als angeblicher Beleg für die Sicherheit einer Nahrung auf Ziegenmilchbasis wird eine Studie bei 2 x 36 Säuglingen zitiert. Hier sei keine unterschiedliche Gewichtszunahme bei der Ernährung mit Säuglingsnahrungen auf der Basis von Ziegen- oder Kuhmilcheiweiß eingetreten. Bei näherer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass die Fallzahl der zitierten Studie nicht die Anforderungen erfüllt, die an eine aussagekräftige Wachstumsstudie im Säuglingsalter gestellt werden (2, 3). Überdies sind die Einzelheiten der Studie nicht mitgeteilt. Des Weiteren werden Ergebnisse von biochemischen Untersuchungen und tierexperimentellen Untersuchungen an Ferkeln und Ratten berichtet, die jedoch keine Schlussfolgerungen zur Sicherheit und Effektivität einer Ernährung mit Nahrung auf Ziegenmilcheiweißbasis bei Säuglingen zulassen. Insgesamt kann also nicht die Schlussfolgerung der Sicherheit einer Säuglingsernährung auf Ziegenmilcheiweißbasis gezogen werden.  Die Ernährungskommission der deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin hat kürzlich zur Verwendung von Säuglingsnahrung auf Ziegenmilchbasis Stellung genommen (4). Die Ernährungskommission traf folgende Feststellungen: 1. Säuglingsnahrungen auf der Basis von Ziegenmilch dürfen in der Europäischen Union nicht unter den Verkehrsbezeichnungen Säuglingsanfangsnahrung oder Folgenahrung angeboten werden, da sie nicht den hier gültigen gesetzlichen Anforderungen zu Säuglingsnahrungen entsprechen. 2. Aussagekräftige klinische Studien zu den Auswirkungen einer Ziegenmilchnahrung auf Wachstum und Nährstoffversorgung im Säuglingsalter liegen nicht vor. 3. Zur Allergieprävention bei familiär erhöhtem Atopierisiko sind Ziegenmilchnahrungen nicht zu empfehlen. 4. Als therapeutische Nahrung bei Säuglingen mit einer Kuhmilcheiweißallergie sind die angebotenen Ziegenmilchnahrungen nicht geeignet. 5. Die Ernährungskommission rät aufgrund der ungenügenden Evaluation generell von der Verwendung von Ziegenmilchnahrung im Säuglingsalter ab.  Eine ganz übereinstimmende Einschätzung wurde kürzlich durch das Wissenschaftliche Gremium für diätetische Produkte, Ernährung und Allergien der europäischen Lebensmittelbehörde (European Food Standards Authority, EFSA) veröffentlicht (5). Diese von der europäischen Kommission beauftragte Expertenkommission folgert, dass es unverändertem Ziegenmilchprotein an Zystein und Tryptophan mangelt und es in unveränderter Form als Proteinquelle für Säuglingsanfangsnahrung ungeeignet ist. Des Weiteren wurde gefolgert, dass die vorliegenden Daten nicht für ein selteneres Auftreten allergischer Reaktionen unter einer Säuglingsnahrung auf Ziegenmilchbasis als unter einer Kuhmilchnahrung sprechen. Auf Grund der verfügbaren Untersuchungen wird die nutritive Eignung und Sicherheit von Ziegenmilcheiweiß als Proteinquelle für Säuglingsnahrungen nicht bestätigt, da die Untersuchungen an erheblichen methodische Mängeln leiden. Dazu zählen die zu geringe Zahl beobachteter Kinder, die Beschränkung auf ausschließlich anthropometische Parameter, das Fehlen einer gestillten Vergleichsgruppe und Abweichungen vom Studienprotokoll. Die EFSA-Kommission folgert, dass unverändertes Ziegenmilcheiweiß nicht zur Verwendung als Proteinquelle für Säuglingsanfangsnahrung geeignet ist. Diese eindeutigen Beurteilungen der Wissenschaft werden in den Aussendungen der Firma Blauer Planet nicht mit einem Wort erwähnt. Sie müssen aber die Kinderärzteschaft dazu veranlassen, Nahrungen auf Ziegenmilchbasis weder bei gesunden Säuglingen noch zur Behandlung von allergischen Reaktionen einzusetzen, solange nicht ihre Effektivität und Sicherheit zweifelsfrei belegt sind und die Voraussetzungen für die behördliche Zulassung als Säuglingsanfangsnahrung gegeben sind.

Literatur:

1. Høst A, Koletzko B, Dreborg S, Muraro S, Wahn U, Aggett P, Bresson J-L, Hernell O, Lafeber O, Michaelsen KF, Micheli JL, Rigo J, Weaver L, Heymans H, Strobel S, Vandenplas Y: Comment on dietary products used in infants for treatment and prevention of food allergy. Joint statement of the ESPACI Committee on Hypoallergenic Formulas and the ESPGHAN Committee on Nutrition. Arch Dis Childh 1999; 81:80-84

2. Koletzko B, Ashwell M, Beck B, Bronner A, Mathioudakis B: Characterisation of infant food modifications in the European Union. Ann Nutr Metab 2002; 46:231-242

3. Report of the Scientific Committee on Food on the Revision of Essential Requirements of Infant Formulae and Follow-on Formulae: SCF/CS/NUT/IF/65 Final. Brüssel, Europäische Kommission, 23 April 2003. (www.europa.eu.int)

4. Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin: Böhles HJ, Henker J, Kersting M, Koletzko B, Lentze MJ, Maaser R, Manz F, Pohlandt F, Przyrembel H. Säuglingsnahrung auf Ziegenmilchbasis. Monatsschr Kinderheilkd 2002; 150:1110-1111

5. Gutachten des Wissenschaftlichen Gremiums für diätetische Produkte, Ernährung und Allergien auf Ersuchen der Kommission über die Beurteilung von Ziegenmilcheiweiß als Proteinquelle als Säuglingsanfangsnahrung und Folgenahrung (Frage Nr. GFSA-Q 2003-019) angenommen am 19.02.2004. (www.efsa.eu.int/p_diet_te.html)

Anschrift für die Verfasser:
Univ.-Prof. Dr. med. Berthold Koletzko
Dr. von Haunersches Kinderspital
Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München
Lindwurmstr. 4
80337 München

Das könnte Sie interessieren
Die Rolle der Ernährungstherapie in der Behandlung von Essstörungen weiter
Alternative Ernährungsformen weiter
MEDPass oder herkömmliche Verabreichung von oraler Nahrungssupplementation weiter
Diagnose-Tool für Schluckstörungen bei älteren Patient*innen: Vergleichsstudie belegt hohe... weiter
Mehr Schein als Sein: Nahrungsergänzungsmittel „made in Germany“ weiter
Neues DFG-Positionspapier „Lebensmittel und Ernährungsforschung in Deutschland“ erschienen weiter