Editorial 11/02: Risiko Acrylamid

Helmut F. Erbersdobler, Kiel

Prof. Dr. Helmut ErbersdoblerImmer wieder wird über Zusammenhänge zwischen der Erhitzung unserer Nahrung und der Entstehung gesundheitsschädlicher Produkte diskutiert. Die Bildung polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe wurde vor 30 Jahren durch veränderte Räucherverfahren drastisch reduziert. Danach konzentrierte man sich etwa 2 Jahrzehnte auf die heterozyklischen aromatischen Amine, die beim Braten und Grillen von Fleisch und Fisch entstehen. Nun steht Acrylamid im Mittelpunkt der Diskussion.

Im April 2002 berichteten schwedische Forscher erstmals über die Entstehung von Acrylamid beim Erhitzen stärkereicher Lebensmittel. Kürzlich wiesen unabhängig voneinander Gruppen in Kanada, Großbritannien, der Schweiz und Deutschland nach, dass Acrylamid bei der Reaktion von reduzierenden Zuckern mit Aminosäuren, vorrangig Asparaginsäure, gebildet wird [vgl. u. a. Nature 418 (2002), 448–449 u. 449–500). Erforderlich hierfür sind Temperaturen über 120 °C; der optimale Temperaturbereich liegt bei 160 bis 190 °C. Begünstigt wird die Reaktion, wenn wenig Wasser auf der Oberfläche der Lebensmittel vorhanden ist. Acrylamid entsteht also bevorzugt beim Backen, Braten, Grillen und Frittieren, nicht beim Kochen. Vereinfacht gilt: Je intensiver die Bräunung, desto mehr Acrylamid wird gebildet.

Besonders viel Acrylamid findet sich in erhitzten Kartoffelerzeugnissen wie Chips, Pommes Frites, Bratkartoffeln, Ofenkartoffeln und Rösti – Kartoffeln enthalten viel freies Asparagin –, aber auch in Brot und Keksen. Allerdings schwanken die Gehalte in den einzelnen Produktgruppen sehr stark. So sind in Kartoffelprodukten zwischen 200 und 1 200 µg, in Knäckebrot zwischen 40 und 2 000 µg Acrylamid/kg nachgewiesen worden.

Eine erste Einschätzung der potenziellen Aufnahme an Acrylamid erfolgte kürzlich mit Hilfe von Daten aus der EPIC-Studie [Slimani, N.: Acrylamide exposure in the EPIC study. Unit of Nutrition and Cancer, IARC, Lyon, 2002]. Als Basis diente eine Umfrage über die Ernährungsgewohnheiten von durchschnittlich 55-jährigen Erwachsenen, darunter ca. 4500 Personen in Deutschland.

Je nach den ausgewählten Lebensmittelgruppen nehmen die befragten Frauen täglich im Mittel ca. 9 bzw. 14 µg Acrylamid, die Männer 11 bzw. 18 µg auf. Vergleicht man die Aufnahme in den untersuchten Ländern, ist diese in Deutschland erfreulicherweise relativ niedrig. Nur in Norwegen (Frauen) bzw. Griechenland (Männer) ist sie noch etwas geringer. Hauptquellen sind bei uns Brot und Bratkartoffeln, in den anderen Ländern Pommes Frites, Kartoffelchips und Knäckebrot.

Acrylamid &61472;erhöht die Krebsrate bei Ratten bei Dosen von 1–2 mg/kg Körpergewicht und Tag. Die WHO und andere internationale Gremien haben es als eine genotoxische und wahrscheinlich für den Menschen karzinogene Substanz eingestuft, für die derzeit noch kein Schwellenwert angegeben werden kann. Darüber hinaus wirkt Acrylamid in hohen Dosen neurotoxisch (NOAEL,no observed adverse effect level: 0,5 mg je kg Körpergewicht und Tag) und beeinflusst die Fruchtbarkeit (NOAEL: 2 mg je kg Körpergewicht und Tag).

Das tatsächliche zusätzliche Krebsrisiko, das für die Bevölkerung durch die Aufnahme von Acrylamid über Lebensmittel entsteht, lässt sich auf Basis der derzeit vorliegenden Daten nicht abschätzen. Die verhältnismäßig hohen Gehalte in Lebensmitteln müssen jedoch so schnell wie möglich verringert werden. Daher haben die Bundesregierung und die Länder Ende August vereinbart, vorrangig die Belastungsspitzen zu senken.

Dafür werden von der Bundesanstalt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) alle Untersuchungsergebnisse erfasst und bundesweit aufbereitet. Ziel ist es, so die Produkte zu identifizieren, die in der jeweiligen Warengruppe die höchsten Acrylamidgehalte aufweisen. Anschließend müssen die Herstellungsprozesse im Hinblick auf eine Minimierung der Acrylamidentstehung optimiert werden. Dies betrifft vor allem die Temperaturführung beim Backen, Braten und Frittieren sowie die Reaktionsbedingungen (Wassergehalt).

Darüber hinaus sollten die Ausgangssubstanzen für die Acrylamidentstehung möglichst reduziert werden, z. B. durch Selektion pflanzlicher Erzeugnisse oder technische Maßnahmen (Auswaschung). Nach Angaben aus der Lebensmittelindustrie konnte man bei Kartoffelprodukten bereits eine 10%ige Reduzierung erreichen. Zusätzlich muss im (Groß-)Haushalt und gewerblichen Bereich die Acrylamidbildung bei der Speisenzubereitung möglichst minimiert werden (vgl. hierzu die praktischen Tipps auf S. 450).

Für den Verbraucher bleibt als grundsätzliche Empfehlung: Schonendes Garen wie Dünsten oder Dampfgaren minimiert die Acrylamidbildung und betont den Eigengeschmack der Speisen.

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