Editorial 03/14: Aufarbeitung

Dr. Udo Maid-Kohnert

Grundlagen zum biochemischen Verständnis vieler Vitaminwirkungen sowie der lebensbedrohlichen Auswirkungen von Vitaminmangelkrankheiten wurden in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gelegt.

In diese Epoche fiel jedoch nicht nur ein rasanter Fortschritt analytischer Methoden und physiologischer Erkenntnisse. Es war zugleich die Zeit zweier Weltkriege und des Nationalismus, der in Deutschland zu seiner extremsten und negativsten Form auswuchs.

In diesem Umfeld fand in Deutschland auch ernährungswissenschaftliche Forschung am Menschen statt, nicht zuletzt vorangetrieben, um die Versorgung und Waffenfähigkeit der Bevölkerung zu sichern. In einem Beitrag zur Geschichte der Vitaminforschung und Supplementierung im nationalsozialistischen Deutschland beschreibt Hans-Georg Joost u. a. Arbeiten Carl Arthur Scheunerts und Karl-Heinz Wagners an Strafgefangenen in jener Zeit und ordnet diese in den historischen und internationalen Kontext ein.

Er kommt zum Schluss, dass Scheunert und Wagner sich formal an die damals gültigen Regeln gehalten haben, dass ähnliche Versuche in Großbritannien und den USA durchgeführt wurden und dass die Wissenschaftler im Fall einer Anklage wahrscheinlich nicht verurteilt worden wären. Er sieht die Versuche aber dennoch als ethische Grenzüberschreitung an, weil sie fortgeführt wurden, obwohl sich die gesundheitliche und die Ernährungssituation der Häftlinge ab 1940 stetig und drastisch verschlechterten.

Gerade in den Medien wird der Idealtyp des Wissenschaftlers gerne als nüchtern, besonnen und sachlich stilisiert. Die „Experten“ umwabert oft der Nimbus der Objektivität. Aber Wissenschaftler sind Menschen, sie haben/erliegen Weltanschauungen, möchten Karriere machen und können Empathie durchaus anderen Impulsen unterordnen. Wohin dies führen kann, haben die Nürnberger Ärzteprozesse (1946–1947) auf schreckliche Weise offengelegt.

Warum ein solches Thema in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU? Die klare Benennung von ethischen Grenzüberschreitungen und deren wissenschaftliche Aufarbeitung sind wichtig. Nicht im Sinne von „aufarbeiten und endlich abschließen“. Vielmehr kann so der Blick dafür geschärft werden, wo heute die Gefahr ethischer Grenzüberschreitungen lauert. Denn nur scheinbar sind wir, 7 Jahrzehnte nach Dachau, davor gefeit, Wissen und Wohlstand nicht auf Kosten schwächerer und „rechtloser“ Menschen zu erlangen:

1997, 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen gegen Nazi-Wissenschaftler, formulierte die Organisation IPPNW (Deutsche Sektion: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.) im Nürnberger Kodex (1997): „Der Fortschritt der Medizin muss sich auch an der Gerechtigkeit der Verteilung medizinischer Ressourcen messen lassen. Die Diskrepanz zwischen dem darniederliegenden Gesundheitswesen in zahlreichen armen Ländern und der teuren Hochleistungs-Medizin in den reichen Staaten ist zum Wohle der armen Länder zu verringern, um für alle Menschen ein größtmögliches Maß an Gesundheit zu erreichen.“

Wenn wir hier „gleiche Chancen auf gesund erhaltende Ernährung“ mit einbeziehen, dann werden die ethischen Herausforderungen auf vielen Tätigkeitsfeldern der Ernährungsfachkräfte deutlich.

Ihr Udo Maid-Kohnert

Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 03/14 auf Seite M121.

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