In welchen Situationen essen wir Lebensmittel, die uns nicht schmecken – und warum?

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Thomas Schröder, Gesa Schönberger, Heidelberg

Peer-Review-Verfahren | Eingegangen: 04.12.2014 | Akzeptiert: 05.05.2015

Zu Gast bei homo cooperativus

Einleitung

In den Medien wie auch in der Ernährungsfachwelt wird der Konsument häufig als allzeit genussbestrebter Lustmaximierer dargestellt, für den das Genießen über allem steht – oder zu stehen habe. Wissenschaftlich wenig beachtet ist hingegen die Frage nach dem Umgang mit Lebensmitteln (LM), die dem Essenden ganz ausdrücklich nicht schmecken. Dabei ist kaum erforscht, in welchen Situationen bzw. unter welchen Bedingungen Individuen im Alltag entscheiden, etwas zu essen, das ihnen nicht schmeckt. Auch liegen keine Studien dazu vor, wie sich ein solches Essverhalten aus Sicht des Einzelnen begründet. Mit Blick auf den bisweilen zwanghaft wirkenden medialen Genusstrend, ist die Dr. Rainer Wild-Stiftung mit einer im Jahr 2013 durchgeführten Erhebung dieser Frage nachgegangen.

Aus soziologischer Perspektive ist es weder neu noch überraschend, dass Menschen auch LM zu sich nehmen, für deren Verzehr nicht primär der Geschmack entscheidend ist. Das Bourdieusche Konzept des symbolischen Konsums [1, 2], das eine Interpretation des Essverhaltens außerhalb ernährungsphysiologischer und sensorischer Präferenztheoreme erlaubt, liefert hierfür hinreichend Erklärungen: LM werden demnach nicht nur aufgrund ihres Geschmacks (im sensorischen Sinne) verzehrt; sondern auch aus symbolischen Gründen, z. B. um einen bestimmten sozialen Status zu signalisieren [1, 3], oder aus Gründen der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen oder Gemeinschaften [4]. Beispiele sind Champagner und Kaviar, die für ökonomischen Erfolg stehen, oder regionale LM als Identitätssymbol und Indikator von Herkunft und kultureller Zugehörigkeit [5, 6].

Zusammenfassung

Menschen essen Lebensmittel selbst dann, wenn diese ihnen nicht schmecken. Die Studie belegt anhand von Einzelfällen, dass Individuen ihr Essverhalten aufgrund verschiedener Merkmale einer Situation anpassen. Gründe hierfür sind u. a.:
• das Bestreben, sozialen Normen gerecht zu werden,
• der Wunsch, die eigene Reputation nicht zu schädigen,
• der Wunsch nach Harmonie und Respekt in sozialen Beziehungen,
• die Absicht, Kindern beim Essen Vorbild zu sein,
• das Fehlen von Alternativen beim Angebot,
• die erhoffte gesundheitliche Wirkung,
• ökonomische Zwänge.

Schlüsselwörter: Geschmackspräferenzen, homo cooperativus, Esssituation, soziale Determinanten, Essverhalten



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Introduction

Media and nutrition experts tend to draw a picture of a consumer with primarily one intention to eat, which is the enhancement and maximization of pleasure. Not much academic interest has been paid yet to the question of how consumers deal with foods which explicitly do not appeal to their taste preference. From an academic point of view, it is not proven which influence the eating situation has on an individual’s decision to eat against its personal taste preferences. There are no studies on individual justifications for this particular behavior. In light of a trend to compulsive, almost enforced pleasure in public depiction, the Dr. Rainer Wild Foundation has conducted a survey in 2013 in search for answers to why individuals choose to eat food contrary to their personal preferences.

From a sociologic point of view, it is neither novel nor surprising to acknowledge that individuals occasionally consume foods albeit flavor being the prime trigger. Bourdieu‘s concept of symbolic consumption [1, 2] invites to interpret eating behavior beyond scientific theories of sensory preference and nutritional physiology, and provides profound explanation. According to Bourdieu, foods are not only consumed for flavor and sensory experience. Food choice and consumption also follow symbolic meaning in order to signify particular social status within a stratified social order [1, 3], or group, or community belonging [4]. For example, champagne and caviar represent economic success; regional foods are symbolic indicators of personal identity and the individual‘s provenance, or cultural belonging [5, 6].

Summary

People eat food even if they dislike its taste. Based on individual cases, this study presents ways in which individuals adapt their eating behavior according to parameters of the eating situation. Individual justifications to eat against their food preferences include:
• not to harm one’s reputation,
• wish to comply with social norms (e.g. rules of courtesy and propriety),
• wish for harmony and respect in social relationships,
• to set children an example when eating,
• lack of provision,
• wished-for effect on health,
• economic forces.

Keywords: taste preference, homo cooperativus, eating situation, social determinants, eating behavior



Den vollständigen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 07/15 von Seite 114 bis 119.

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