Editorial 10/13: Arme Ritter

Prof. Dr. Helmut Erbersdobler,
Herausgeber

Spätsommer und Herbst sind Zeiten des Überflusses. Da kommt man leicht in Verführung, allzu locker mit den Gaben der Natur umzugehen. Vieles wird aussortiert, es wird verschwenderisch gewirtschaftet und Reste werden nicht mehr verwertet sondern entsorgt. Die alte Empfehlung, die neu gekauften Lebensmittel im Vorratsund Kühlschrank nach hinten und die noch vorhandenen nach vorne zu stellen, wird ohnedies selten konsequent befolgt. Mir geht es häufig so bei Wein. Auf das Neue ist man neu-gierig, das Alte bleibt in den Regalen, bis es ggf. „firn“, d. h. „over the hill“ ist.

Auch die Tradition der Resteverwertung ist verloren gegangen. Wer kann heute noch Semmelknödel machen oder Arme Ritter? Ich erinnere mich noch an die Milch- oder Sauermilch-Suppen, die mit Schnitten aus Altbrot bei Bauern zum Frühstück gereicht wurden. Altbrot wurde auch in Fleischbrühe, zumeist von gekochtem Schinken, geschnitten. Eine Besonderheit war die niederbayrische Hiagstmili- Suppe. Hier wurde im Herbst – also zur milchreichen Zeit – der Überschuss an Milch in einen Topf, der in einer kühlen Ecke (meist im Flur) stand, geschüttet. Die Milch säuerte, wurde aber immer wieder durch Frischmilch „gefüttert“. Das Resultat war eine besondere Mischgärung und ein eigener, sehr reizvoller Geschmack.

Im Herbst durchzogen die Düfte der zum Dörren in die Sonne oder auf den Ofen gelegten Früchte das Haus. Nicht nur Zwetschgen, auch Birnen (Kletzn) und Apfelringe wurden dadurch konserviert und der Überfluss aus der Obsternte sinnvoll für den Winter aufbewahrt. Der Rest des Streuobstes wurde zu „Most“ vergoren. So ging nichts verloren und auch die Reste und Abfälle wurden genutzt, wie die Apfelschalen, die für den Adventstee getrocknet wurden. Was dann noch übrig blieb, wurde für die Tiere (Schweine) beiseite gestellt und alle paar Tage vom benachbarten Bauern abgeholt.

Gut, heute haben wir die Tiefkühltruhe, die alles übrig gebliebene Frische aber auch Zubereitete haltbar macht. Damit lässt sich aber auch nicht alles konservieren. Altes Brot etwa taugt nur noch für die oben genannten Zwecke.

Viele alte Konservierungsverfahren haben sich verselbstständigt und die entsprechenden Produkte sind zu eigenständigen Lebensmitteln geworden, wie die gepökelten Fleischerzeugnisse (Dauerwürste, Schinken), Marinaden (Matjes oder Bismarck- Hering) und Käse. Es gibt sogar archäologische Hinweise, dass Käse in der Anfangszeit der Viehhaltung ein Ausweg war, mit der die Steinzeitmenschen die wertvollsten Bestandteile der Milch trotz der noch vorherrschenden Laktose-Unverträglichkeit nutzen konnten. Denken Sie daran, wenn Sie einen feinen Peccorino essen, aber versuchen Sie auch mal einen regionalen „Kochkäse“!

Ein schönes Erntedankfest wünscht Ihnen

Ihr Helmut Erbersdobler

Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 10/13 auf Seite M545.

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