Editorial 03/06: Mangel im Überfluss

Prof.Dr.Helmut ErbersdoblerSo lautete das Motto des diesjährigen wissenschaftlichen Kongresses der DGE, der vor einigen Tagen in Hohenheim stattfand. Die Plenarvorträge, zwei Sitzungen und ein Satellitensymposium sowie eine Podiumsdiskussion widmeten sich dem Thema. In weiteren Sitzungen stellten einzelne Arbeitsgruppen sonstige neueste Ergebnisse auf dem weit gespannten Gebiet der Ernährung und Lebensmittel vor.

Was war mit dem Motto gemeint? Sicherlich weniger die ungerechte Aufteilung der Nahrungsgüter zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern, wie sie z.B. in der Februar-Ausgabe angesprochen wurde. Die DGE als nationale Gesellschaft beschäftigt sich nicht vorrangig mit diesen Fragen. Gemeint war vor allem der „qualitative Hunger“, also der Überfluss an Energie einerseits und der Mangel an wichtigen Nährstoffen andererseits. Beide Phänomene finden sich in der stetig wachsenden Gruppe der älteren und alten Menschen sowie bei dem sozioökonomisch unterprivilegierten Teil der Bevölkerung und dort vor allem bei den Kindern und Jugendlichen.

Diese beiden Gruppen standen im Mittelpunkt des Kongresses. Die Hochbetagten und in hohem Maß Unselbstständigen leiden oft „Mangel an allem“, d. h. an Wasser, Energie, Protein und weiteren Nährstoffen. Bei den übrigen Senioren findet sich häufig eine zu niedrige Zufuhr an Folsäure, den Vitaminen D, E und C sowie Calcium, wie es auch der Artikel von Andrea Straßburg et al. im vorliegenden Heft ausweist. In beiden Fällen, müsste man meinen, ist Abhilfe möglich, insbesondere wenn man an die Möglichkeiten einer präventiv-medizinischen Versorgung mit Supplementen denkt.

Dass Eigeninitiativen über Supplemente hier unzureichend sind, zeigen die Veröffentlichungen aus dem Ernährungs-Survey 1998 und die genannte Arbeit. Eine Neukonzeption der einschlägigen Rezepturen für Nahrungsergänzungen erscheint dringend notwendig. Bei den Kindern und Jugendlichen ist das Problem viel schwieriger anzugehen, da die Defizite unspezifisch und nicht klinisch manifest sind. Hauptproblem ist das Missverhältnis zwischen Energie- und Nährstoffzufuhr. Ursachen sind, wie schon oft kommentiert, die relativ zu hohe Energiezufuhr bei geringerem Energieverbrauch wegen weitgehender Inaktivität und der Verzehr von Lebensmitteln mit geringer Nährstoffdichte. Besonders betroffen sind v. a. Bevölkerungsschichten mit niedrigem Ausbildungsstand und/oder geringem Einkommen.

Obwohl höherwertige Lebensmittel grundsätzlich teurer sind, ist es m. E. möglich, z.B. auch beim Discounter zum akzeptablen Preis frisches und gesundes Obst und Gemüse sowie Brot, Fleisch und Milchprodukte guter Qualität zu erhalten. Das Hauptproblem dürfte, wie ebenfalls schon ausgeführt, eine geringere Resistenz gegenüber wohlschmeckendem und sättigendem, aber nährstoffarmem und dickmachendem „Nahrungs-Schrott“ sein.

Sicher spielt auch die geringere Betreuungsintensität der Kinder eine große Rolle. Statt aktiv zu sein, sitzen heute Eltern und Kinder vor „den Geräten“ und stopfen sich mit Junk-Food voll. Dazu kommt noch, dass dank der Werbewirtschaft (oder der ständigen Nörgeleien der „Erzieher“?) bestimmte Lebensmittel, wie Soft Drinks, Chips und Co. als „cool“ gelten. Im Gegenzug hat die Ernährungsaufklärung zwar Wissen vermittelt, im Grunde aber Antiwerbung für gesunde Lebensmittel gemacht. Die Arbeit von Volker Pudel im vorliegenden Heft charakterisiert diese Problematik zutreffend.

Kurzfristig lässt sich meines Erachtens dieses Problem nicht lösen. Manche Länder versuchen es bereits mit Werbeverboten und anderen restriktiven Maßnahmen. Alle gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere die Wirtschaft, sollten ernsthaft(!) zusammenarbeiten, damit dies nicht auch bei uns nötig wird. Ich bin aber nicht sicher, ob eine erfolgreiche Zusammenarbeit wirklich gelingen wird.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen guten Start in den Frühling. Bringt doch diese Jahreszeit auch ein verstärktes Nachdenken über den eigenen Körper und die Gesundheit mit sich.

Ihr

Helmut Erbersdobler


 

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