Editorial 07/14: 'Was Hänschen nicht lernt …'

Schon ungefähr in der Mitte des letzten Jahrhunderts gab es erste Studien zur Prägung von Verhaltens- und Persönlichkeitsfaktoren des Heranwachsenden in der frühen Kindheitsphase. Die große Bedeutung emotionaler Zuwendung in diesem Alter wurde z. B. von H. M. Skeels mit Studien an Kindern im Waisenhaus sowie von R. A. Spitz mit Untersuchungen über Auswirkungen der Mutter-Kind-Beziehung im Säuglingsalter eindrucksvoll belegt.

Eine stabile und zuverlässige emotionale Bindung an eine erste Bezugsperson im Leben eines Kindes ist demnach die Grundlage für eine altersgerechte sozial-emotionale, kognitive und motorische Entwicklung; dies gilt nach über 60 Jahren Forschung auf diesem Gebiet als belegt. Nachdem sich die Wissenschaft jahrzehntelang mit der frühen Kindheit beschäftigte, richtet sich der Fokus nun verstärkt darauf, welche Prägungen bereits vor der Geburt durch Stoffwechselaktivitäten im Mutterleib stattfinden.

Auch hier deuten sich komplexe Abläufe an, z. B. dass ungünstige Einflüsse wie Stressbelastung, Angstgefühle oder eine Depression der Mutter die kindliche Entwicklung in Richtung des Auftretens späterer Verhaltensoder psychischer Störungen beeinflussen können . Auch pränatale Prägungen hinsichtlich z. B. der Entstehung von Asthma, Autismus oder degenerativer neuronaler Erkrankungen des Alters (z. B. Alzheimer Krankheit) sind im wissenschaftlichen Diskurs.

Nach einer Reihe von Studien hierzu im letzten Jahrzehnt gilt als nahezu sicher, dass auch verschiedene gesundheitliche Parameter des Organismus früh geprägt werden. Die Zeit der „ersten tausend Tage“ gehört also zu den kritischen Zeitfenstern, in denen Weichen sowohl im Gehirn als auch im restlichen Stoffwechsel gestellt werden. Dass diese das Verhalten auf so vielfältige Weise prägende erste Lebensphase präund postnatal auch für die Entwicklung des Essverhaltens bedeutend ist, ist naheliegend.

Inwieweit z. B. die Geschmacksprägung bereits im Mutterleib ihren Anfang nimmt, wird zurzeit in Deutschland und international erforscht. Eine These, die S. Reitmeier in unserem Special in diesem Heft (ab S. M386) vorstellt, ist, dass die emotionale Bindung während der Nahrungsaufnahme in der ersten Lebensphase eine große Rolle für das spätere Essverhalten und damit für ein bedarfsgerechtes, genussvolles Essen spielt. Aber auch in den späteren Kindheitsjahren werden noch Gewohnheiten, Einstellungen und Verhaltensweisen ausgeformt – abhängig von einem Zusammenspiel zwischen Umweltfaktoren und eigenem Charakter. Auch hierzu liefert der Beitrag von Reitmeier spannende Ergebnisse.

Das – zugegeben ziemlich beanspruchte – Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt…“ scheint daher zumindest insofern richtig, dass, wenn „Hänschen nicht lernt“, z. B. durch stabile emotionale Bindungen Zutrauen zu sich und seiner Umgebung zu fassen und Nahrungsaufnahme genussvoll zu erleben, es Hans später schwer fällt, sich dies noch anzueignen. Ein spannendes Forschungsfeld, wie ich finde, das es wert ist, in Deutschland auf noch mehr neugierige Wissenschaftler/-innen zu treffen.

Ihre Sabine Schmidt

Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 07/14 auf Seite M345.

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