DAG und World Obesity Federation: Hot topic conference „Dietary sugars, obesity & metabolic disease risk 2015“

Am 29. und 30.6.2015 fand in Berlin eine internationale Konferenz der World Obesity Federation in Kooperation mit der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG) mit ca. 120 Teilnehmer/-innen zum Thema Dietary sugars, obesity & metabolic disease risk 2015 statt. In diesem Konferenzbericht werden einige Beiträge kurz vorgestellt. Das Tagungsprogramm inkl. aller Kurzfassungen ist online verfügbar: www.worldobesity.org/what-we-do/events/hot-topics/2015-dietary-sugars/. Die Organisatoren hatten renommierte Referenten/-innen aus der Schweiz, den USA, Frankreich und Deutschland eingeladen, mit teilweise sehr eindrucksvollen Vorträgen. Zusätzlich wurden Posterbeiträge präsentiert.

Barry Popkin (USA) stellte globale und nationale Entwicklungen zum Zuckerverzehr und zum Verzehr zuckergesüßter Erfrischungsgetränke sowie mögliche bzw. bereits in einigen Ländern erprobte ernährungspolitische Maßnahmen zur Reduktion des Zuckerkonsums vor. Popkin verwies darauf, dass in den USA inzwischen etwa 75 % der verpackten und verarbeiteten Lebensmittel zugesetzten Zucker enthalten. Er betonte die Notwendigkeit, sich intensiver als bisher mit dem „High-Consumer“ zu beschäftigen und mahnte, die häufig unterschätzte Zuckerzufuhr aus Fruchtsäften und -nektaren stärker als bisher in die Studien einzubeziehen.

Serge Ahmed (F) betonte, dass Zucker bzw. Süße einen starken Belohnungseffekt auf das Gehirn ausübe, der etwa mit dem von suchtinduzierenden Medikamenten vergleichbar sei. Die biologische Robustheit dieses Effekts könne erklären, warum viele Menschen sich schwer tun, den Verzehr von zuckerreichen Lebensmitteln zu kontrollieren, wenn sie mit diesen kontinuierlich in Berührung kommen.

Matthias Tschöp (München) und Jonathan Purnell (USA) beschäftigten sich in ihren Beiträgen ebenfalls mit Effekten von Zucker auf das Gehirn. Während Tschöp in seinem Vortrag über die Bedeutung von Zucker für die nahrungsinduzierte Adipositas die zentrale Bedeutung des Hypothalamus beleuchtete, erläuterte Purnell, dass Glukose nicht nur die primäre Energiequelle für das Gehirn, sondern auch von großer Bedeutung für die neuronale Integrität sei. Darüber hinaus würde eine höhere Fruktosezufuhr bei Tier und Mensch stärker als Glukose die Appetitregulation modulieren, zu einer höheren Nahrungsaufnahme und letztendlich auch zu einem höheren Körpergewicht führen.

Julie Menella (USA) ging in ihrem Beitrag auf die lange bekannte, angeborene Vorliebe für den süßen Geschmack ein, der bereits bei Neugeborenen beobachtet werden könne und den Organismus auf energiereiche Nahrung hinwiese. Die biologisch bedingte Präferenz für „süß“ mache aber besonders Kinder in unserer aktuellen Lebensmittelumwelt sehr anfällig für einen hohen Zuckerkonsum.

Michael Goran (USA) ging in seinem Vortrag darauf ein, dass bei reiner Muttermilchernährung fruktosehaltiger Zucker in der Ernährungsumwelt des Säuglings i. d. R. zunächst nicht vorkomme. In neueren Studien sei gezeigt worden, dass der Konsum von Zucker und zuckergesüßten Getränken schon früh im Leben beginne und mit einem erhöhten Risiko für Übergewicht assoziiert sei. Er zeigte, dass eine hohe Exposition mit Fruktose in kritischen Entwicklungsphasen des Fötus, des Neugeborenen und des Kleinkindes lebenslang neuroendokrine Funktionen, Appetitkontrolle, Essverhalten sowie die Adipogenese, Fettverteilung und den Stoffwechsel beeinflussen kann. Diese Veränderungen würden letztendlich die langfristige Entwicklung von Adipositas und damit verbundene metabolische Risiken begünstigen.

Luc Tappy (CH) analysierte die Bedeutung fruktosehaltiger Zucker für die Entstehung einer Fettleber und eines Diabetes mellitus Typ 2. Im Gegensatz zu Glukose könne Fruktose nur in der Leber und wenigen anderen Geweben metabolisiert werden. Eine hohe Zufuhr stimuliere die Lipogenese in den Leberzellen, induziere einerseits die verstärkte Bildung intrahepatischer Fettdepots und führe andererseits zu einer Hypertriglyzeridämie. Dieses wiederum begünstige die Ausbildung einer Insulinresistenz.

Kimber Stanhope von der UCLA in Davis (CA) stellte einige ihrer gut kontrollierten und dokumentierten klinischen Studien sowie vergleichbare Studien anderer Kollegen zum Thema Effects of sugar on CV-Risk vor. In diesen Studien konnte überzeugend gezeigt werden, dass bei einer leicht positiven Energiebilanz fruktosehaltige Zucker dosisabhängig den Fettgehalt der Leber erhöhen und auch eine Reihe etablierter Risikofaktoren für CVD (cardiovascular diseases) ungünstig beeinflussen.1 Stanhope erläuterte im Weiteren einige Hintergründe, weshalb dieser ihrer Meinung nach eindeutige Zusammenhang trotzdem weiterhin sehr kontrovers diskutiert wird.

In großen klinischen Studien des Rippe Lifestyle Institute2 in Orlando (USA) würden interessanterweise i. d. R. keine negativen Effekte von Zucker oder Fruktose auf klinische Endpunkte gefunden3 (die Partner des Rippe Lifestyle Institute seien das „Who-is-Who4 der nordamerikanischen Getränke- und Zuckerindustrie). Stanhope ging in ihrer Analyse dann auch auf einige mögliche Gründe ein, weshalb in den Rippe-Studien die Nullhypothese häufig angenommen werde:

• Die Studien würden überwiegend bei prämenopausalen Frauen mit einer leicht negativen Energiebilanz durchgeführt (auch Stanhope und andere fanden in dieser spezifischen Studiengruppe und bei diesem Studiendesign kaum ungünstige Ergebnisse). Darüber hinaus fehle i. d. R. eine nach Geschlecht differenzierte Auswertung.
• Fruktose oder Zucker würden oft mit Milch verabreicht und nicht in Form zuckergesüßter Getränke, wie dies üblicherweise in der Verzehrpraxis erfolge. Bei Verwendung dieses Mediums würden i. d. R. deutlich abgeschwächte Effekte gefunden.
• Hinzu komme, dass häufig statistische Testverfahren mit eher geringer statistischer Power gewählt würden.

Dies erwecke den Anschein, dass die Studien dieses Instituts von vornherein so konzipiert seien, dass für fruktosehaltige Zucker in den klinischen Studien keine Effekte nachzuweisen seien. In Meta-Analysen und systematischen Reviews, die heute das Standardinstrument von Fachgesellschaften zur Bewertung von Zusammenhängen zwischen Ernährungsfaktoren und Krankheiten bzw. klinischen Endpunkten sind, würden diese Studien dann berücksichtigt. Durch die hohen Fallzahlen hätten sie durchaus das Potenzial, sonst erkennbare Zusammenhänge abzuschwächen oder verschwinden zu lassen. Auch würden nach Aussage von Stanhope die Vertreter der Zucker- und Getränkeindustrie bei Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern gern auf die Widersprüchlichkeit in den Studienergebnissen hinweisen, um z. B. Diskussionen über eine Zuckersteuer oder andere regulative Maßnahmen im Keim zu ersticken (Hintergrundinformation: Bes-Rastrollo et al. haben bereits 2013 in einer systematischen Literaturauswertung am Beispiel von Studien zum Zusammenhang von zuckergesüßten Getränken und Gewichtszunahme eine deutliche Bias der Studien mit einem finanziellen Interessenkonflikt aufgedeckt5).

Anders als der Titel vielleicht vermuten ließ, handelte es sich um eine rein wissenschaftliche Tagung und nicht um eine ernährungspolitische Debatte. Der Zuckersektor hatte das offensichtlich anders verstanden, denn während der Konferenz führte das Forum Zucker vor dem Hotel eine PR-Aktion mit der kostenlosen Verteilung von Süßigkeiten und dem versteckten Fotografieren von Konferenzteilnehmern/ -innen durch.

Als Fazit der Konferenz kann festgehalten werden:
• Der im letzten Jahrhundert stark gestiegene Zuckerkonsum hat in der Menschheitsgeschichte heute Rekordwerte erreicht und macht auf Bevölkerungsebene in einigen entwickelten Ländern teilweise bereits fast 20 % der Gesamtenergieaufnahme aus.
• Ein hoher Konsum fruktosehaltiger Zucker ist in epidemiologischen Studien konsistent mit einer erhöhten Energieaufnahme und mit der Entwicklung von Übergewicht/ Adipositas und Stoffwechselkrankheiten assoziiert.
• Fruktose kann eine Gewichtszunahme verursachen, wenn der Verzehr im Rahmen einer überkalorischen Ernährung erfolgt, bei der mehr Energie bereitgestellt als verbraucht wird (wie dies heute in der Praxis häufig der Fall ist).
• Eine stark fruktosehaltige Ernährung kann die Serum-Triglyzerid- sowie Harnsäurekonzentrationen erhöhen und die hepatische Glukoseabgabe verändern. Ob diese Effekte das Risiko für metabolische oder kardiovaskuläre Erkrankungen unabhängig von einem Anstieg der Körperfettmasse erhöhen, bleibt spekulativ.
• Bei der Erarbeitung wissenschaftlicher Stellungnahmen, Leitlinien o. ä., bei der Analyse von Meta-Analysen und systematischen Reviews und auch bei ernährungspolitischen Entscheidungen muss sehr, sehr sorgfältig auf die Autoren, das Studiendesign, die statistischen Verfahren, die finanzielle Förderung etc. geachtet werden. Dies bedarf einer Menge Erfahrung und Hintergrundwissen, um mögliche Quellen der Manipulation sicher zu erkennen.

Helmut Heseker, Paderborn

1 siehe auch: Stanhope KL et al. (2015) A dose-response study of consuming high-fructose corn syrup-sweetened beverages on lipid/lipoprotein risk factors for cardiovascular disease in young adults. Am J Clin Nutr 101: 1144–1154
2 www.rippehealth.com/rippelifestyle   
3 siehe z. B.: Angelopoulos TJ et al. (2015) Fructose containing sugars do not raise blood pressure or uric acid at normal levels of human consumption. J Clin Hypertens 17: 87–94
4 siehe auch: www.rippehealth.com/partners/index.htm 
5 Bes-Rastrollo M et al. (2013) Financial conflicts of interest and reporting bias regarding the association between sugar-sweetened beverages and weight gain: a systematic review of systematic reviews. PLoS Med 10: e1001578



Den Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 11/15 auf Seite M618-M619.

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