Editorial 04/06: April, April?

Prof.Dr.Helmut ErbersdoblerOhnmacht der Ernährungswissenschaft, wissenschaftlicher Blindflug, sich widersprechende Studienergebnisse, das sind Schlagworte, die man in letzter Zeit vermehrt hört. Teilweise werden alle Empfehlungen der Wissenschaft angezweifelt – und dann eigene, all zu freizügige Ratschläge nachgeschoben. Wie kommt es zu dieser kritischen Einstellung und ist sie gerechtfertigt?

In der Tat überschlagen sich heute teilweise widersprüchliche Erfolgsmeldungen besonders im Bereich der epidemiologischen Forschung. So konnte man z. B. fast zeitgleich folgendes lesen: „Wirksamkeit von Ballaststoffen bei Dickdarmkrebs ungesichert“ [YD Park et al., JAMA 294, 2849–2857, 2005] und „Wirksamkeit von Ballaststoffen bestätigt“ [S Bingham, Proc. Nutr. Soc. 65, 19–23, 2006]. Worauf sind diese Diskrepanzen zurückzuführen und was kann, was darf man als Wissenschaftler, Journalist, Leser oder Verbraucher noch glauben?

  • Der Wert einer epidemiologischen Untersuchung hängt von der Art der Studie, der Anzahl der Studienteilnehmer, der Präzision, mit der die Daten erhoben wurden, und dem Grad des Einflusses verfälschender Faktoren ab. In einigen Bereichen (z. B. beim Alkohol- und Fettkonsum) kommt es auch zu einem so genannten Underreporting, d. h., die Angaben der Probanden sind gewissermaßen „geschönt“ und liegen unterhalb der tatsächlichen Aufnahme. Bei diesen Unsicherheiten werden statistisch gesicherte valide Ergebnisse nicht immer erreicht.
  • Manche Studien halten von Anlage und Durchführung her den Ansprüchen, die an sie gestellt werden, nicht stand. So schwenken oft die Teilnehmer der Kontrollgruppen auf das Verzehrsverhalten der Versuchsgruppe um, oder die Ziele einer Intervention werden wegen geringer Kooperation der Probanden nicht erreicht. Obwohl Wissenschaftler diese Problematik sehen, kann man die Ergebnisse solcher Studien nicht ohne weiteres negieren.
  • Heute ist bekannt, dass es bei vielen Zivilisationskrankheiten bzw. deren Risikofaktoren genetische Varianten, so genannte Pluralismen, gibt, die eine uniforme Antwort auf Ernährungseinflüsse nicht erlauben. Einige dieser Pluralismen glaubt man bereits zu kennen. So wurde z. B. kürzlich berichtet, dass die Menschen unterschiedlich auf Koffein reagieren, da zwei genetische Varianten im Bereich des Stoffwechsels einmal einen raschen und das andere Mal einen langsamen Abbau und damit eine unterschiedliche Verträglichkeit des Koffeins bewirken. Ähnliche Pluralismen diskutiert man für den Lipidstoffwechsel, das Krebsgeschehen usw. Leider sind nur in den wenigsten Fällen einzelne oder einige wenige Stoffwechselenzyme, d. h. Gene, beteiligt. Zumeist sind es mehrere Dutzend. In epidemiologischen Studien können diese Unterschiede noch nicht berücksichtigt werden, was den teilweise unsicheren Ausgang zur Folge hat.
  • Als Folge der Globalisierung dreht sich die Welt immer schneller und auch die Medien drehen sich mit. Viele Journalisten haben online Zugriff auf die führenden Zeitschriften und posaunen jede neue Erkenntnis sofort in die Welt. Publicitysüchtige Wissenschaftler, dadurch auf Forschungsgelder hoffend, machen es ihnen oft leicht. Dass auch ein Nature-Artikel noch nicht die endgültige Wahrheit verkünden muss und vieles sich erst durch Wiederholung bestätigen lässt, dafür gab es gerade in letzter Zeit eindrucksvolle Beispiele.

Was lernen wir daraus? Zurückhaltung statt vorschnellen Jubelns über spektakuläre Ergebnisse ist sicher sinnvoll, Zufriedenheit mit dem Erreichten und Realitätssinn ebenfalls. Während man z. B. auf der einen Seite wegen allenfalls einer geringen Möglichkeit von Risiken die Gentechnik bei Lebensmitteln verwirft, hält man Empfehlungen auf Grund einer weit stärker gesicherten, wenn auch noch nicht hundertprozentigen, Evidenz – z. B. Wirkung der Ballaststoffe – für unseriös.

Soll, darf die Wissenschaft auf dieser Basis Empfehlungen aussprechen? Ich meine ja! Denn dies tatenlos anzusehen und zu sagen „Iss, was und wie viel Dir schmeckt“, wie es einige „Experten“ und Journalisten derzeit tun, ist bei dem überbordenden Angebot an wohlschmeckenden Lebensmitteln sicherlich nicht richtig. Wer Entscheidungen trifft, kann Fehler machen, wer nichts entscheidet, macht alles falsch.

Bleiben Sie gelassen, wie beim Aprilwetter!

Das wünscht Ihnen

Ihr

Helmut Erbersdobler


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