Editorial 09/06: Preußische Tugenden

Prof.Dr.Helmut ErbersdoblerNoch vor zwei, drei Generationen weigerte sich der deutsche Beamte, das Zeugnis seines Sohnes im Dienste zu unterschreiben, weil die Tinte dem Staat gehöre und nicht privat genutzt werden dürfe. Damals und auch noch später waren sich alle einig: Die Deutschen beschließen Gesetze und halten sie ein, die Italiener dagegen, um nur ein Beispiel herauszugreifen, regeln viel weniger und wenn dies einmal der Fall ist, dann halten sie sich nicht daran.

Heute ist alles anders und bezüglich der Gesetze eher umgekehrt. Man denke nur an das Rauchverbot in Restaurants. Das funktioniert in Italien prima, alle beachten es. Vermutlich lieben die Italiener das Essen und Trinken zu sehr, um sich den Essgenuss durch Rauchschwaden verderben zu lassen. Bei uns dagegen wartet man noch ab – bis wir dann in einigen Jahren sicher wissen, dass eine Regelung auf freiwilliger Basis nicht klappt.
Vermutlich wegen der deutschen Angst vor Gängelung wird immer und überall die Regulationswut beklagt, insbesondere wenn sie von der Europäischen Union ausgeht.

Tatsächlich beschließt Brüssel Vieles. Dabei wird jedoch oft vergessen, dass diese Vorgaben meist in nationales Recht umgesetzt werden müssen und damit geht es erst richtig los. Statt sich zu freuen, dass einem Arbeit abgenommen wird, will man dem Ganzen einen nationalen Stempel aufdrücken und nutzt den „Umsetzungsspielraum“ weidlich aus. In unserem föderalen Staat fügen darüber hinaus auch noch die Länder weitere Vorschriften hinzu, um sich zu profilieren.

Die Folge ist entweder eine Überregulierung, die den Betroffenen kaum Luft zum Atmen lässt, wie das Gentechnik-Gesetz zeigt, oder es geschieht gar nichts, weil die uns Deutschen eigene, perfektionistische Umsetzung in nationales Recht sehr zeitaufwändig ist und die Behörden schlecht ausgestattet sind. Immer wieder steht Deutschland kurz vor einer Abstrafung, da es manche Vorhaben nicht fristgerecht umgesetzt hat.

Der Aufsatz von Berthold Gaßmann im vorliegenden Heft zeigt diese Situation am Beispiel der Festlegung von Höchst- und Mindestmengen an Vitaminen und Mineralstoffen in Lebensmitteln auf. Wichtig daran erscheint mir vor allem, dass bald etwas entschieden wird, da zunehmend Fakten mit Gefährdungspotenzial geschaffen werden. Dies gilt beispielsweise für Jod.

Immer mehr funktionelle Lebensmittel werden mit Jod angereichert, weil wir angeblich unter Berufung auf die Ernährungsberichte nur 50 % der empfohlenen Menge aufnehmen . Dass die entsprechenden Tabellen nur die Situation ohne die heute schon recht zufriedenstellende Aufnahme von jodiertem Speisesalz widerspiegeln, wird dabei übersehen. Eine ähnliche Problematik bahnt sich im Hinblick auf die Folsäure an, wenn die Anreicherung von Mehl beschlossen wird.

Aus aktuellem Anlass sollte man gleich eine andere großsprecherische Aussage zurechtrücken. Es wird oft behauptet, dass bei uns jedes Bundesland mehr Lebensmittelkontrollen durchführt als mancher größere Staat in der EU. Angesichts des neuesten Fleischskandals sei die Frage erlaubt: Ist es in den anderen Staaten der EU, etwa in Frankreich, wirklich so viel schlechter um die Lebensmittelqualität bestellt und was läuft bei uns falsch, wenn mit so viel Aufwand so wenig erreicht wird? Die Antwort ist vermutlich, dass in Frankreich die Verbraucher viel mehr von Lebensmitteln und deren Qualität verstehen. Schließlich sind die Franzosen trotz z. B. einer dort fehlenden Hackfleischverordnung noch nicht ausgestorben.

Damit jedoch genug des resignativen Zynismus. Hoffentlich besinnen wir uns wieder auf die preußischen Tugenden – bis hin zu den Bayern, deren Bürokratie ohnedies als die „preußischste“ in Deutschland gilt.

In diesem Sinne: O’zapft is’! Hoffen wir, dass wenigstens unser Bier skandalfrei bleibt.

Ihr gebürtiger Niederbayer

Helmut Erbersdobler

 

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