Editorial 10/2023: Refeeding: fahrlässiges Handeln lebensgefährlich

Die Ernährungsfachwelt ist sich einig: Ernährungstherapie muss qualitätsgesichert erfolgen, damit sie einerseits ihrer großen Bedeutung in der medizinischen Therapie gerecht werden kann und andererseits kein Unheil anrichtet. Ein besonders starkes Beispiel für die Bedeutung einer professionellen Ernährungstherapie ist Gegenstand der zertifizierten Fortbildung in diesem Heft: das Refeeding-Syndrom (RFS).

Ein RFS kann sich durch wieder einsetzende Ernährung bei kataboler oder kachektischer Stoffwechsellage entwickeln, z. B. nach mehrere Tage dauernder Nahrungskarenz oder länger anhaltender stark reduzierter Nahrungszufuhr. Betroffen sind v. a. mangelernährte Patient*innen, z. B. alte Menschen oder solche, die schwer an Krebs oder an Anorexia nervosa erkrankt sind. Patient*innen also, die ganz besonderer Fürsorge und Aufmerksamkeit bedürfen. (Wieder-)Ernährung kann – wenn ohne Expertise und Bedacht ausgeführt – bei solchen Patient*innen tatsächlich zum Tod führen.
Man sollte denken, dass aufgrund dieses hohen Risikos Ärztinnen und Ärzten Symptome und Therapie des RFS bekannt sind und im Medizinstudium vermittelt werden. Dass die Realität im deutschsprachigen Bereich leider anders aussieht, zeigen u. a. zwei Befragungen von Ärzt*innen und Medizinstudierenden: In Deutschland erkannten im Jahr 2022 von 281 befragten Mediziner*innen und Medizinstudierenden anhand eines Fallbeispiels von RFS über drei Viertel das hoch risikobehaftete RFS nicht oder nicht richtig.1 Eine Schweizer Studie ergab, dass gut die Hälfte der Medizinstudierenden im letzten Semester nur ungenügende Kenntnisse zum Refeeding-Syndrom hatte, gut jedem*jeder Zehnten war es gar unbekannt.2
Lars Selig, Autor unseres Fortbildungsartikels ab S. M621, und Ernährungsmediziner Dr. Haiko Schlögl beschäftigen sich in ihrer Arbeit am Universitätsklinikum Leipzig seit Jahren intensiv mit dem Refeeding-Syndrom. In ihrer Klinik gibt es seit Neuestem – neben einem Alarmsystem, das jeden Laborbefund automatisch auf bestimmte Grenzwerte analysiert und bei Abweichungen einen „Laboralarm“ auslöst – auch ein sog. klinisches Entscheidungsunterstützungssystem, durch welches Risikofälle speziell für ein Refeeding-Syndrom angezeigt werden. Zwei bis drei Alarme pro Woche werden über dieses neue System ausgelöst3 – das zeigt, dass es sich keineswegs um ein seltenes Phänomen handelt.
Bei der stationären Behandlung mangelernährter Patient*innen sind nicht nur aus diesem Grund die klinischen Ernährungsteams gefragt: Um ein RFS zu vermeiden, muss die Ernährung von katabolen oder kachektischen Patient*innen sehr sorgfältig geplant und kontrolliert sowie den Empfehlungen folgend ausgeführt werden. Letztere werden im Artikel erläutert und anhand von Fallbeispielen veranschaulicht. Unbedingte Leseempfehlung für alle klinisch Tätigen!

Ihre Sabine Schmidt

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1 Janssen G, Pourhassan M, Lenzen-Großimlinghaus R: The Refeeding Syndrome revisited: you can only diagnose what you know. Eur J Clin Nutr 2019; 73: 1458–63.
2 Bauer M, Dolder A, Stanga Z, Kurmann S: Refeeding-Syndrom: Was wissen Humanmedizinstudierende im letzten Studiensemester? Aktuelle Ernährungsmedizin 2021; 46: 233–9.
3 Refeeding-Syndrom bleibt häufig unerkannt. Leipziger Zeitung, 27. Mai 2023.



Dieses Editorial finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 10/2023 auf Seite M593.

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