Editorial 10/04: Heavy User?

Helmut Erbersdobler, Kiel

Prof.Dr.Helmut ErbersdoblerIn diesem Herbst häufen sich die Aktivitäten in Sachen Adipositas. So richtete die DGE die Dreiländertagung zum Thema „Adipositas, eine Herausforderung fürs Leben?“ Ende September in Dresden aus, und Anfang Oktober fand die 20. Jahrestagung der Deutschen Adipositas-Gesellschaft in Hamburg statt. Am 29. September veranstaltete der Verein Plattform Ernährung und Bewegung e. V. seinen Gründungskongress und fast gleichzeitig erschien das Buch von Renate Künast „Die Dickmacher“. Die Ernährungs-Umschau widmet sich ebenfalls intensiv diesen Fragen. Die Problematik ist äußerst vielschichtig, aber dennoch kreisen alle Überlegungen um die drei Punkte kalorische Überversorgung, Bewegungsmangel und sozioökonomischer Status. Gerade der letzte Punkt wiegt schwer. Denn viele der materiell mehr oder weniger ausreichend versorgten, aber sozial und bildungspolitisch Vernachlässigten unserer Gesellschaft haben sich in eine eigene Welt zurück gezogen.  Wie aber kann man die sozial schwachen, vermehrt übergewichtigen und generell an der Ernährung nicht interessierten Verbraucher erreichen? Bisher zielten Programme vorrangig auf den gut ansprechbaren Teil der Bevölkerung, in dem es ja auch Übergewichtige gibt. Deutlich wird: Ernährung und körperliche Aktivität müssen qualitativ und quantitativ verbessert werden. Hinsichtlich der körperlichen Aktivität sind noch viele Probleme zu lösen . Bewegung fällt in den Bereich des Arbeitsstoffwechsels, und körperliche Arbeit ist vielen unbequem und lästig. Spielerische Betätigung erscheint als der Lösungsweg, z. B. nach der Schule und dem Essen.  Renate Künast macht dies in ihrem Buch an einem schönen Beispiel aus der eigenen Kindheit deutlich. Aber gibt es heute außerhalb der Schule im eigenen Wohnviertel überhaupt noch so viele Kinder, dass z. B. zwei Fußball- oder Eishockey-Mannschaften gegeneinander spielen können? Sonst wird der spontane Ausgleich für das Stillsitzen in der Schule unsicher, organisierte Bewegung ist angesagt.  Aber auch in der Ernährung ist nur scheinbar alles klar. Verkleinerung der Portionsgrößen, Verringerung der Energiedichte besonders beliebter Mahlzeiten und Reduktion der Aufnahme zuckerhaltiger Softdrinks oder von Snacks und Co. werden propagiert. Die Wurzeln des Übels liegen tiefer. So spielt es sicher eine Rolle, dass nicht mehr täglich nach Bedarf eingekauft wird, sondern stets große Mengen besorgt und bevorratet werden. Was ständig verfügbar ist, wird vermehrt konsumiert.  Jede Woche gibt es neue Sonderangebote an Getränken und Leckereien, die in großen Mengen gekauft und beschleunigt aufgebraucht werden. Aus dem Auge, aus dem Sinn – das ist heute nicht mehr möglich. Selbst wenn in Haus und Küche nur Äpfel und Karotten in Sichtweite herumstehen, spätestens die Werbung holt uns alles wieder ins Bewusstsein zurück.  Dazu kommt noch, dass in vielen Familien nicht mehr selbst gekocht, sondern mehrfach in der Woche Pizza oder Döner gegessen wird. Man ist zu müde oder zu bequem, um zu kochen, oder kann es nicht. Die sog. Heavy User der Fast-Food-Restaurants, die einmal in der Woche dorthin gehen, fallen da fast nicht auf. Es geht nicht also allein um Essen und Trinken, sondern um unseren gesamten Lebensstil. Die Frage ist, ob manche der heute so schnell aufgelegten Programme diesen überhaupt ändern können – und wollen. Mit all diesen Problemen fertig zu werden und gleichzeitig gegen die geistige und körperliche Trägheit sowie die alles beherrschende Esslust zu kämpfen, verlangt enorme Kraft. Ohne aktive Mitarbeit der Betroffenen werden alle Bemühungen scheitern. Und man wird nur mit der Kombination von Zwangsmaßnahmen (Schulsport), Überzeugungsarbeit (Sportvereine, Essensprogramme), Erziehung und psychologischen Strategien (Werbung) in kleinen Schritten vorankommen.  Hoffentlich werden die Erfolge wenigstens im messbaren Bereich liegen. Viel wäre schon erreicht, wenn die Zunahme der Adipositas bei Kindern und Erwachsenen gestoppt würde. Dafür aber müssen wir alle Heavy User werden: allerdings nicht im Hinblick auf das Essen, sondern auf die sportlichen Aktivitäten!                                                                                                Helmut Erbersdobler

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