Nachschlag: Reisen macht hungrig

Reisen macht hungrig – wer kennt das nicht? Bei der Urlaubsfahrt vergeht oft keine halbe Stunde und der quengelnde Nachwuchs scheint kurz vor dem Verdursten und Verhungern zu stehen. Erfahrene Eltern haben zum Glück vorgesorgt und reichlich nicht-klebrigen, nicht-krümeligen Proviant eingepackt; möglicherweise auch noch mundfertiges Obst und Gemüse in der Vorratsdose. Und auch die Emilflasche mit dem Lieblingsgetränk wird bei den kleineren Kindern nicht fehlen.

Wer mit der Familienkarosse unterwegs ist, wird nicht umhinkommen, über kurz oder lang aufgrund dringender Bedürfnisse („ich muss mal“) den nächsten Rasthof anzusteuern. Mit etwas Glück findet sich bald ein rettender und noch dazu preisgekrönter Rasthof am Wegesrand, mit ansprechendem Ambiente, sauberen Sanitäranlagen, kindgerechten, ansprechenden Speisen und einer Spielecke. So kann der Stopp durchaus ein Vergnügen sein.

Wenn aber nicht, dann bietet sich dem ernährungswissenschaftlichen Auge auch schon einmal das reinste Grauen: Viele energiereiche, frittierte Gerichte und längere Zeit aufgewärmte Speisen, bei denen die Haut der Saucen bereits einen traurigen Glanz zeigen. Vieles mutet wenig appetitanregend an und ist noch weniger geeignet, die nächsten 200 km ohne postprandiale Müdigkeit sicher zu überstehen. Das Salatbuffet sieht zwar nicht unappetitlich aus: Der Blick auf den Grammpreis stellt aber eher ein Kaufhemmnis als einen Kaufanreiz dar.

Wer mit der Bahn mit 250 km/h unterwegs ist, sollte sich tunlichst nicht an alte Zeiten erinnern, als man noch in einem (Club-)Speisewagen mit weißer Tischdecke speisen konnte und ein echter Koch an Bord war. Wenn man das Glück hat, in einem nicht überfüllten Zug zu fahren, das Personal im Bordrestaurant erschienen ist, Küche und Wasser funktionieren und die auf der von Foodstylisten designten Hochglanzspeisekarte aufgeführten Speisen und Getränke auch tatsächlich verfügbar sind, dann wird der/ die Reisende das Reiseziel zumindest nicht hungrig und durstig erreichen. Der erfahrene bahnfahrende Esser wird schnell die qualitativ und quantitativ attraktiveren Speisen erkennen und sich nicht die zwei kleinen Maultaschen mit zu wenig Brühe oder die etwas trockenen, wenig knusprigen Nürnberger Würstchen servieren lassen. Im Vorteil ist, wer weiß, dass in der Systemgastronomie der Bahn nur vorgekochte, vakuumierte Speisen kurz aufgewärmt werden. Nur wenige Gerichte überstehen diese Tortur ohne große geschmackliche Einbußen. Dafür serviert die Bahn dem nicht autofahrenden Gast – quasi als Nachschlag – gern noch ein zweites großes Bier, aber nur wenn die Zapfanlage funktioniert und noch Bier im Fass ist.

Wer aber Hunger auf Reisen ertragen kann oder keinen Proviant mitführen mag, dem dürfte das Essen am Zielort dann umso besser schmecken.

Helmut Heseker



Diesen Artikel finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 2/2020 auf Seite M128.

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