Editorial 07/04: Die Rede

Helmut Erbersdobler, Kiel

Prof.Dr.Helmut Erbersdobler

In früheren Zeiten haben große Reden häufiger als heute stattgefunden und „die Welt bewegt“. So wenigstens kommt es einem vor, wenn man Reden von Cicero oder anderen Klassikern, aber auch solche aus späteren Epochen liest. Heute werden die Probleme eher zerredet und durch mehr oder weniger diskrete Interviews einer zögerlichen, oft in chaotischen Diskussionen erzielten Lösung zugeführt. Mit der Regierungserklärung „Eine neue Ernährungsbewegung für Deutschland“ vom 17. Juni wollte die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Renate Künast durchaus ernste Zeichen setzen, ja aufrütteln. Bemerkenswert ist, dass dies die bisher erste Rede im Bundestag über „unsere Problematik“ ist.  Die Ministerin beschwor die gravierenden Folgen der zunehmenden Adipositas-Epidemie für die Gesundheit der Bevölkerung. Es besteht die Gefahr, dass neben immensen Krankheitskosten und Verlusten an Arbeitszeit und -effizienz auch viel individuelles Leid und Elend auf uns zu kommen. Besorgniserregend ist insbesondere, dass sich das Übergewicht vorwiegend umgekehrt proportional zum Einkommen und Bildungsstand entwickelt. Der „Arme“ hungert heute nicht mehr, er wird übergewichtig bis adipös und zwar aus Mangel an Wissen und Bewegungsmöglichkeiten.  Nicht ausreichend informiert und wenig an der Ernährung interessiert, ist er den Billigangeboten an energiereichen Lebensmitteln, manchmal in Super-Size-Portionen angeboten, ausgeliefert. Panem et circenses hieß früher die Losung, um noch einmal die Antike zu bemühen, heute sind es Fernsehen und Chips, Popcorn ...Spätestens an dieser Stelle erhebt sich die Gretchenfrage nach der Werbung. Diese wird derzeit heiß diskutiert.  Das Hauptproblem ist, dass man heute mit der Werbung immer noch Gas gibt, obwohl eigentlich Bremsen angesagt ist. Sollte es nicht möglich sein, statt quantitativer Aspekte die Qualität der Lebensmittel und qualifizierte Information in den Mittelpunkt der Werbung zu stellen? Die von Renate Künast geforderte Eigenverantwortlichkeit der Wirtschaft bezüglich der Werbeaussagen und Lebensmittelangebote wäre sicherlich effizienter zur Lösung der Probleme als die angedrohten „strengeren Regeln für die Lebensmittelwerbung“.  Aber was und wer ist die Lebensmittelwirtschaft? – Ein heterogenes Sammelbecken z. T. auseinander strebender Interessengruppen. Dies zeigen nicht zuletzt die Diskussionen um die neuen Ernährungspyramiden, von denen sich die einen Vorteile erhoffen, während die anderen Nachteile befürchten. Immerhin wurde kürzlich auf Initiative der Wirtschaft und des Ministeriums die Plattform „Ernährung und Bewegung“ gegründet. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, im Bündnis aller gesellschaftlichen Gruppen dazu beizutragen, dass insbesondere Kinder und Jugendliche einen gesunden Lebensstil führen; denn, so die Initiatoren, das gebietet die Verantwortung für die Zukunft der Kinder.  Mit dem Glückwunsch von dieser Seite verbindet sich die Hoffnung, dass die gute Absicht gelingen möge und alle Gruppen effizient mitwirken. Ein Erfolg der Initiative wird nämlich für einige Bereiche der Wirtschaft mit ökonomischen Einbußen einhergehen, die verkraftet werden müssen. Die qualifizierte Aufklärung und Betreuung der Bevölkerung sollte möglichst früh beginnen, am besten schon im Kindergarten, wie auch Renate Künast zu Recht fordert. Die Pläne hierfür müssen allerdings nicht nur zügig umgesetzt werden, sondern dies muss auch auf einer qualifizierten, wissenschaftlich gesicherten Basis geschehen.  Denn es steht zu befürchten, dass nicht überall nur unvoreingenommen aufgeklärt wird, dass es vielmehr Trittbrettfahrer geben wird und Gruppen einseitig Nutzen aus den Aktivitäten ziehen wollen. Die Ernährungs-Umschau wird sich daher künftig noch stärker als bisher bemühen, die Mittlerkräfte sachgerecht über den jeweils neuesten Stand zu informieren und auf positive Entwicklungen – aber auch auf Schieflagen - hinzuweisen.                                                                                             Helmut Erbersdobler 

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