Editorial 7/2018: Über unsere Antriebe zu essen

Ein umfassendes Verständnis dessen, was uns eigentlich antreibt zu essen, ist ohne Zweifel von fundamentaler Bedeutung für das Verstehen der Ätiologie von Übergewicht und der offenbar unaufhaltsamen globalen Zunahme der Adipositasepidemie. Überraschenderweise ist aber die Erforschung dessen, was uns wirklich antreibt zu essen, international bis heute ein vernachlässigtes Forschungsgebiet. Auch in Deutschland wird diese Thematik nicht systematisch, sondern allenfalls punktuell beforscht.

Es ist das große Verdienst von Professor John Blundell, die große Bedeutung dieser Thematik sehr früh erkannt zu haben. Daher gründete der Neurowissenschaftler bereits 1990 an der Faculty of Medicine and Health der Universität Leeds die Human Appetite Research Unit (HARU). Die wissenschaftliche Bedeutung seiner wegweisenden Untersuchungen über die Mechanismen der Appetitkontrolle und der Regulierung der Energiebilanz zeigt sich inzwischen in mehr als 25 000 (!) Zitierungen seiner Arbeiten und einem h-Index von1 92.

Die Ernährungs Umschau ist glücklich, einen so ausgewiesenen Experten als Autor für unser aktuelles Special „Biologie des Antriebs zu essen – Implikationen für das Verständnis des menschlichen Appetits und der Adipositas“ („Biology of the drive to eat – Implications for understanding human appetite and obesity“) gewonnen zu haben. John Bundell schafft es in verblüffender Weise, die zahlreich bekannten Einzelaspekte einzuordnen, deren heutige Bedeutung zu bewerten und uns den aktuellen wissenschaftlichen Stand der Thematik zu vermitteln. So beschreibt er die verschiedenen Erklärungsansätze der letzten 50 Jahre und zeigt auf, dass Appetitregulation nicht zufällig erfolgt, sondern zunächst einmal auf normalen biologischen Prozessen mit deutlicher evolutionärer Perspektive beruht.

Der Autor macht deutlich, dass der Appetit von Spezies zu Spezies variiert und dass eines der auffälligsten Merkmale des Appetits von der Tatsache abhängt, dass Menschen nun einmal Omnivoren sind. Im Gegensatz zu Herbi- oder Carnivoren, deren Nahrungszufuhr biologisch auf deutlich weniger Nahrungsmitteln programmiert ist, haben Omnivoren eine viel größere Auswahl an potenziell essbaren Nahrungsquellen. Für den omnivoren Menschen ist die Art der Nahrung daher weniger biologisch programmiert, sondern mehr von lokalen Gegebenheiten, wie der Kultur, Geographie, Klima oder Religion sowie von ethnischen und sozialkulturellen Prinzipien abhängig. Dies bedeutet, dass unsere Lebensmittelauswahl erheblich von der Umwelt abhängt, in der wir leben. Inzwischen haben sich unsere Nahrungsquellen dramatisch verändert. So kann die rationale Nahrungsmittelwahl durch die Umgebung unterminiert werden, wenn z. B. der Energie- und Nährstoffgehalt bestimmter „moderner“ Nahrungsmittel dem Esser verborgen bleibt.

Blundell folgert daraus, dass es in technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften mit hoch prozessierten Nahrungsmitteln leicht zu quantitativ und qualitativ unangemessenen Essgewohnheiten kommen kann. Weiter führt er aus, dass zwar die Stärke des Verlangens zu essen, zusammen mit der Allesfresser-Gewohnheit, lange Zeit zu unserem evolutionären Erfolg beigetragen hat, dass dies aber inzwischen durchaus mit erheblichen Nachteilen verbunden ist. Auch wenn Ihnen einige der Ausführungen noch kryptisch vorkommen mögen, hoffe ich, dass Sie Appetit bekommen haben, sich intensiv mit unserem Special auseinanderzusetzen und Sie neue Erklärungen finden, für unseren Drang zu essen. Über unsere Antriebe zu essen

1 Der h-Index, auch Hirsch-Faktor genannt, basiert auf bibliometrischen Analysen. Er gibt die Häufigkeit der Zitierungen eines Autors im Verhältnis zur Gesamtzahl seiner Publikationen an. Bei einem h-Index von 92 wurden 92 Arbeiten des Autors mindestens 92mal zitiert.


Ihr Helmut Heseker



Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 7/2018 auf Seite M353.

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