Editorial 8/2025: Bitte kein vorauseilender Gehorsam!

In normalen Zeiten ist das Scheiben von Editorials für die ERNÄHRUNGS UMSCHAU eine angenehme Tätigkeit, denn die vielfältigen Themen der Artikel bieten eigentlich immer einen guten Anknüpfungspunkt. Aber haben wir noch „normale Zeiten“?

In einem zweiseitigen Editorial, das zeitgleich in den Fachzeitschriften Lancet, La Tunisie Médical, Journal of Korean Medical Science, New Zealand Medical Journal und dem Deutschen Ärzteblatt erscheint1, rufen die Chefredakteur*innen dieser Journals zu aktivem Widerstand gegen die um sich greifende Unterdrückung freier Wissenschaft auf und betonen die Wichtigkeit redaktioneller Unabhängigkeit von Fachzeitschriften. Auslöser sind die Dekrete der amerikanischen Regierung, die Initiativen für Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion (Diversity, Equity, and Inclusion [DEI]) schwächen sollen und durch Kürzung von Fördermitteln Gesundheits- und Klimaforschung massiv behindern. Alle diese Themen haben unmittelbaren Bezug auch zur Ernährungsforschung und -praxis, und so stellte der Adipositasforscher Matthias Tschöp, ab Herbst Präsident der Ludwig-Maximilians-Universität München, bereits im Februar fest: „Was gerade in den USA passiert, ist angsteinflößend“.2
Leider werden in der politischen Debatte hierzulande bereits viele dieser unsäglichen Vorgänge kopiert. Der Eindruck drängt sich auf, dass nicht wenige Politiker*innen und Lobbyist*innen im Windschatten des amerikanischen Ungeistes eine eigene Agenda der Grenzverschiebung abarbeiten. Sei es durch kreative Achsenskalierung bei Pressekonferenzen, sei es in realitätsverweigernden Reden zur Klima-Verantwortung Deutschlands, sei es durch polemische Spaltung der Gesellschaft.
Nun hängt gute Forschung immer auch am Tropf der Fördermittelgeber, und das sind in erheblichem Maße Bundes- und Landesministerien.3 Hier sind Fachgesellschaften und ganz konkret Lehrstuhlinhaber*innen gefordert, die Bedeutung ihrer Forschungsergebnisse klar zu kommunizieren und gegen politische oder mediale Einflussnahme und Umdeutungsversuche vehement zu verteidigen. Sie können im ursprünglichen Wortsinn (Professor*in = Bekenner*in) Bekenntnis für seriöse Wissenschaft ablegen und sollten ihre geistigen Kapazitäten nicht in vorauseilendem Gehorsam für Umtextungen von Forschungsanträgen (ersetze „Nachhaltigkeit“ durch „Regionalität und Saisonalität“…) verwenden. Wenn wir hier Rückgrat zeigen und nicht vor Dummheit und Rechtsruck einknicken, hilft dies vielleicht auch anderen, sich zu besinnen.
Und abseits des akademischen Betriebs: In der Ernährungsberatung und -therapie können Fachkräfte tagtäglich auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und mit Empathie Menschen dabei unterstützen, ihren Ernährungsalltag zu bewältigen. Und zwar unabhängig von Herkunft, Status, individueller Biografie oder geschlechtlicher Orientierung. Daher meine Bitte: Nutzen Sie Ihren Einfluss und Ihre Professionalität!

Ihr Udo Maid-Kohnert

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1 Frizelle F, et al.: Die Unterdrückung von freier Wissenschaft und ihre globalen Folgen. Deutsches Ärzteblatt vom 08.08.2025. www.aerzteblatt.de/archiv/pdf/eb094184-4ab5-4b5c-ae22-63ea46334afb 
2 www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-ludwig-maximilians-universitaet-praesident-tschoep-li.3206085?reduced=true
3 https://foerderatlas.dfg.de/wp-content/uploads/2024/11/foerderatlas_2024.pdf 



Dieses Editorial finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 8/2025 auf Seite M457.

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