Editorial 9/2017: Der Geschmack der Gans zu Weihnachten …

Nein, ich habe mich nicht im Heft geirrt. Aber das traditionelle Weihnachtsessen ist nun einmal das klassische Beispiel für Erinnerungen an die eigene Essbiografie, das Thema unseres Specials in diesem Heft.

Andere Ess-Erinnerungen sind ähnlich leicht abrufbar: Lieblings- und Geburtstagsessen und natürlich auch Gerichte, die man als Kind gar nicht mochte (in meinem Fall Steckrübensuppe). Während die Erinnerung an Speisen recht leicht fällt, liegt das eigentlich Prägende unserer Essgeschichte nicht so offen vor Augen: Neben sozio-kulturellen und zeitgeschichtlichen Konstellationen sind dies Alltagsroutinen und essbezogene Einstellungen der Eltern: Habe ich essen in einer geborgenen Atmosphäre gelernt oder war es verbunden mit Hektik und Stress? Wurden positive oder negative Gefühle mit einem guten Essen gefeiert bzw. unterdrückt? Waren liebevolles Kochen und ein gutes Essen den Eltern ein Anliegen? Oder waren Geld, Zeit oder gar Nahrungsmittel knapp und es musste gegessen werden, was auf den Tisch kommt?

Darüber hinaus hängt Essen u. a. noch mit Persönlichkeitseigenschaften, Verhaltensweisen in anderen Bereichen, dem Umgang mit Emotionen und bestimmten Umweltbedingungen zusammen. Zudem ist das eigene Körperbild ebenso „geworden“ wie das Essverhalten: Ein dicker Körper kann ebenso Loyalität gegenüber einem übergewichtigen Lebenspartner oder der Familie ausdrücken wie auch von Persönlichkeitskonflikten ablenken, denen man sich stellen müsste, gäbe es das „Problem“ des Dickseins nicht mehr. Wie ein Puzzle haben sich Essverhalten und Körpergewicht nach und nach zusammengesetzt, wie Ute ZOCHER in ihrem Fortbildungsbeitrag in Heft 6 dieses Jahres erläuterte.

Kommt ein Klient nun zur Ernährungsberatung, sind seine persönlichen Hintergründe für die oder den Beratenden zunächst eine „Blackbox“. Essbiografisch geschulte oder zumindest aufmerksame Ernährungsberater/-innen werden sich für die Anamnese viel Zeit nehmen, um ihr Gegenüber mit seinen Konstellationen kennen zu lernen und die Bedingungen für eine Ernährungsveränderung zu ergründen. Selbst in der naturwissenschaftlichen und medizinischen Betrachtung der Ernährung geht der Trend zu individualisierten Konzepten – „personalisierte Medizin/Ernährung“ –; in den Sozialwissenschaften ist die Analyse individueller Unterschiede und ihrer Ursachen schon immer zentral. Die biografische Forschung und Arbeit zeigt, dass es auch in der Beratung unerlässlich ist, zu begreifen, wie ein individuelles Verhalten entstanden ist und was es am Leben erhält.

Einmal abgesehen von der Beratung bringen biografische Gespräche auch für die Gemeinschaftsverpflegung und die Betreuung von alten und hochbetagten Menschen großen Nutzen. Über den Austausch und das Nachkochen von Rezepten aus der Kindheit sind z. B. Jörg REUTER1 und Markus BIEDERMANN2 mit alten Menschen ins Gespräch gekommen und haben es geschafft, Lächeln und Zufriedenheit in einem eintönigen Alltag zu schaffen.

Wenn Sie unser Special-Interview zu Essbiografien (ab S. M506 in diesem Heft) gelesen haben, begeben Sie sich vielleicht auch auf Entdeckungsreise, welche Fäden in Ihrem biografischen „Flickenteppich“ Sie steuern und antreiben – ich verspreche, dass dies eine interessante Reise wird.

Ihre Sabine Schmidt

1 Reuter J, Rehn M, Brandes C. Wir haben einfach gekocht. 100 Erinnerungen an Lieblingsrezepte. Neuer Umschau Buchverlag, Neustadt/Weinstraße (2015)
2 http://forum99.ch/portrait 



Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 9/17 auf Seite M481.

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