Editorial 11/12: Zu viele Baustellen

Prof. Dr. Helmut Erbersdobler,
Herausgeber

Kürzlich las ich mit großem Interesse die Arbeit chinesischer Autoren über den Einfluss von MikroRNAs aus Reis bei Mäusen. Bei den MikroRNAs handelt es sich um kleinste Nukleinsäureketten mit etwa 20 Bausteinen, die zwischen Transkription und Translation in die Genregulation eingreifen. Sie haben Einfluss auf den Stoffwechsel, können das Krebsgeschehen beeinflussen und haben ggf. auch diagnostische Bedeutung.

Bei einer Fütterung von Reis mit einer bestimmten MikroRNA an Mäuse ergab sich in oben genannter Arbeit ein Anstieg des LDL-Cholesterins. Die relevante MikroRNA fand sich unter 30 anderen auch im Blut gesunder Chinesen ohne dass über Wirkungen berichtet wurde.1 Schon wieder eine große neue Baustelle, dachte ich, deren Fertigstellung noch ein Jahrzehnt(e) dauern wird. Erst kürzlich hatte ich ja bei ‚Zu guter Letzt‘ (Ernährungs Umschau 09/2012) über das Piceatannol in Rotwein berichtet, das die Adipogenese in den Fettzellen hemmen soll.

Damit sind wir bei der bisherigen Hauptgruppe der Baustellenlieferanten, den sekundären Pflanzenstoffen. Hoffnungsträger nannte ich im Jahr 2000 diese Substanzen, bei denen die entscheidenden Untersuchungen am Menschen noch ausstünden. 2 Daran hat sich bis heute praktisch nichts geändert. Wer kann von überzeugender Evidenz bei Stoffen wie z. B. Resveratrol, selbst Quercetin, bei Anthocyanen oder anderen phenolischen Verbindungen sprechen?

Aber auch bei den klassischen Nährstoffen hapert es. Alle Journale sind heute voll von Berichten über Vitamin D. Aber was ist außer dem Einfluss im Knochenstoffwechsel von den heiß diskutierten übrigen Wirkungen wirklich evident? Selbst zu den erstrebenswerten Serumspiegeln an 25(OH)-Vitamin D gibt es kontroverse Ansichten, die von 30 nmol/l bis 75 nmol/l reichen. Zur Frage der Fett- und Kohlenhydratzufuhr und der Bedeutung des Glykämischen Index habe ich mir inzwischen eine abwartende Ignoranz verordnet. Ich halte mich eher an die Energiedichte. Ähnliches gilt für die optimale Proteinzufuhr.

KOLUMBUS hat Amerika entdeckt. Aber er hielt die Inseln, die er gefunden hatte, für zum Indischen Subkontinent gehörig. Benannt und erforscht wurde Amerika erst in den Jahrzehnten darauf. So ähnlich geht es heute mit der Entdeckung der vielen Wirkungen von Lebensmittel-Bestandteilen, die zu den genannten Baustellen führen. Nur dass dies heute so vielfach geschieht, dass die Exploration der Details im Wust der Events schier erstickt. Man müsste Prioritäten setzen, aber wie und wo?

Also, bleiben Sie cool ob der vielen Meldungen, die uns erreichen.

Es grüßt Sie

Ihr Helmut Erbersdobler

1Barth CA (2012) DGE info, September, 134–137
2Praxishandbuch Functional Foods, Vorwort. Behr’s Verlag, Hamburg 2000–2012

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