Editorial 12/2017: Ein Rückschritt vom Fortschritt

Wie stolz war Deutschland bisher darauf, dass wir im Gegensatz zu manchen Nachbarstaaten kontinuierlich stabile Regierungen zustande bekamen und zu unseren typischen Eigenschaften inzwischen nicht nur Disziplin, Fleiß und Perfektion, sondern auch Vernunft gezählt werden konnte – und nun zum Jahresende: Nach einer schwarz-roten Vernunftehe das Jamaikadebakel.

Bei vielen nationalen und globalen Entwicklungen hat es den Anschein, als habe es die Epoche der Aufklärung nie gegeben, in der die Vernunft die vorherrschende Kraft wurde und in der das Denken mit den Mitteln der Vernunft zu vielfältigen und nachhaltigen Veränderungen auf philosophischer, sozialer, wissenschaftlicher sowie politischer Ebene geführt hat. Eine Epoche, in der althergebrachte, starre und überholte Vorstellungen, Vorurteile und Ideologien ad acta gelegt wurden, in der Akzeptanz für die Erlangung und Umsetzung neuen Wissens geschaffen wurde und jahrhundertealte Gewissheiten und Dogmen verblassten. Die Folge der Aufklärung war ein enormer (natur-)wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und technischer Fortschritt, der bis heute angehalten hat und unser Leben in vielerlei Hinsicht revolutionierte und bequemer machte.

Neuerdings können wir allerdings das eigenartige Phänomen beobachten, dass von zunehmenden Teilen der Öffentlichkeit (und manchmal auch der Politik) selbst gut begründete Warnungen vor z. B. gesundheitlichen, ökologischen oder ökonomischen Folgen von Ernährungsfehlern, Klimaveränderungen oder gar dem Brexit auch deshalb abgelehnt werden, weil diese „von Experten“ kommen. Vor dem Hintergrund eines medial verstärkten Wissenschaftler-Bashings sowie der Wirkung von Fake-News und Polemiken ist es auch in diesem Jahr nicht einfacher geworden, als Ernährungswissenschaftlerin oder Ernährungswissenschaftler gehört zu werden.

Uns hat die Gesellschaft die Rolle zugewiesen, in unserem Fachgebiet vorhandenes Wissen immer wieder aufs Neue zu überprüfen, neue Fragen zu stellen und neue Erkenntnisse zu gewinnen, diese einzuordnen und öffentlich zu kommunizieren und somit zur Verbesserung von Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Lebensqualität beizutragen. Wenn wir allerdings Lösungsvorschläge für die großen Ernährungsprobleme unserer Zeit, wie z. B. zur Übergewichts- oder Hypertonieproblematik Politikern vorstellen, dann wird uns schnell die Begrenztheit unseres Wirkens bewusst und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich unsere gesellschaftliche Rolle deutlich von der eines interessengeleiteten Produzenten, Journalisten, Publizisten oder auch Politikers unterscheidet. Natürlich sollten wir unsere gesellschaftliche Rolle als (Ernährungs)WissenschaftlerIn nicht überschätzen, aber wir sollten sie auch nicht unterschätzen. Ich bin mir sicher, dass sich auf Dauer die Wahrheit bzw. evidenzbasierte Erkenntnisse durchsetzen werden und hege die große Hoffnung, dass die Gesellschaft wieder mehrheitlich in die Fahrspur der Aufklärung zurückkommen wird.

Wir haben uns bemüht, Ihnen auch in diesem Jahr wieder ein Angebot an aktuellen und spannenden Ernährungsthemen zu bieten und werden dies in gewohnter Qualität fortsetzen.

In diesem Sinne wünschen Ihnen Herausgeber, Verlag und Redaktion der ERNÄHRUNGS UMSCHAU frohe, gemeinsame Festtage und neue Sicherheiten sowie Gesundheit, Erfolg und Zufriedenheit im Neuen Jahr!

Ihr Helmut Heseker

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