Editorial 06/07: Fit oder Fett

Prof.Dr.Helmut Erbersdobler

Die Deutschen sind von allen Völkern Europas am „dicksten“. Diese Meldung hat zu vielen Pressekommentaren und politischen Reaktionen geführt bis hin zur Rede des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Herrn Horst Seehofer, in der er einen „Aktionsplan Ernährung“ ankündigt.

Dabei stimmt die Aussage vermutlich gar nicht. Es wurden nämlich Stichproben herangezogen, die nicht vergleichbar sind, und nur die deutschen Angaben beruhen auf Messungen, während die Daten der übrigen Länder durch Befragungen erhoben werden, und da wird das Gewicht oft unterschätzt.

Trotzdem sind die Fakten erschreckend genug, besonders wenn man an die Entwicklung des Übergewichts bei Kindern und Jugendlichen denkt. Die Wurzel des Übels ist klar. In der „westlichen Welt“ hat der Energieverbrauch des Einzelnen durch Heizung, perfektionierte Bekleidung sowie den Rückgang körperlicher Aktivität abgenommen. Die Energieaufnahme hat sich dagegen nicht entsprechend vermindert, die Energiedichte der Nahrung sogar deutlich zugenommen (s. Ernährungs Umschau 52, 136–139, 2005). Dies bewirkt Störungen der biochemischen, psychologischen und kognitiven Regulationen des Energie-Gleichgewichts und hier liegt das Problem.

Überall in der Welt, wo der westliche Lebensstil vorherrscht oder Einzug hält, werden die Menschen dick, inzwischen auch in Korea, China, ja sogar bereits in einigen Ländern Afrikas. Das Angebot an wohlschmeckenden, häufig aber energiereichen Produkten ist inzwischen überwältigend. Die Lebensmittelhersteller und die Fast-Food Produzenten sind aber nicht die alleinigen „Verursacher“, auch wenn aktuell v. a. diese angeprangert werden. Es sind auch der Spitzenkoch im Fernsehen, die Betriebskantine, die Mama zu Hause. Alle fügen sie eine Prise Zucker, einen Schuss Öl oder Sahne mehr und einen Löffel Butter extra (nur zur besseren Soßenbindung!) hinzu, um die verwöhnten Münder zufriedenzustellen.

Die Tricks, wie man die dröge alte Mehlschwitze durch raffinierte, leider deutlich kalorienreichere Zutaten ersetzt, füllen zusammen mit anderen Verführungen kilometerlange Kochbuchregale. Sollen wir das alles verbieten und kasernierte Körperertüchtigung verordnen? Oder sollen wir weiter, aber intensiver an die Vernunft appellieren? Besser informieren? Warnhinweise auf die Verpackung drucken? Das Wissen um die Probleme ist bereits vorhanden, wie mir durch den Ausruf eines etwa 4 Jahre alten Mädchens klar wurde, das beim Discounter auf einen 2-kg-Beutel Fruchtgummis deutete: „Gell Papi, das müssen wir sehr langsam essen und immer nur ein bisschen“!

Was fehlt, ist die praktische Umsetzung des Wissens, sind die Kenntnisse über schmackhafte Alternativen. Wie gehen wir mit frischen Lebensmitteln um, wie kann man Nahrung mit geringerer Energiedichte schmackhaft zubereiten und welche Strategien zur Vermeidung des Zuviel sind möglich (z. B. Portionierung, Vertröstungs- und Belohnungsstrategien)? Hinzukommen müssen Anreize zu weniger Fernsehkonsum und mehr Bewegung im Alltag. All dies müsste schon in der Schule oder besser bereits im Kindergarten beginnen.

In Korea, wo ich vor Kurzem erschreckend viele übergewichtige Kinder gesehen habe, hat man inzwischen über 4 000 Ernährungswissenschaftler in die Grundschulen integriert und bereits 1 000 in Kindergärten – beides mit steigender Tendenz. Ähnliches bei uns zu erhoffen, ist illusorisch. Trotzdem macht der neue Aktionsplan der Bundesregierung gewisse Hoffnung. Die Wirtschaft könnte ihre Technologien zur Herstellung schmackhafter Alternativen einsetzen und das Marketing entsprechend ausrichten. Der Handel müsste sich seiner Verantwortung klar werden und die Hersteller in die Pflicht nehmen. Unmöglich? Ich glaube nicht!

Wie schnell hat der Handel den Zusatznutzen („added value“) von Bio erkannt und umgesetzt! Das klappt! Wenn auch der Aktionsplan gelänge und die Medien, z.B. mit ihren vielen Kochshows, mitmachten und wir noch mehr Bewegung in das Volk brächten, dann könnten wir es schaffen. Wenn nicht, dann wird es noch strengere regulative Maßnahmen wie Werbeverbote, Zwangspausen fürs Fernsehen, Steuern auf bestimmte Lebensmittel u.a.m. geben. Das wird wehtun, aber wenig nützen. Lassen Sie uns daher hoffen, dass die neuen Programme nicht nur heiße Luft sind, wie die Sauna, die ebenfalls nur scheinbar zur Gewichtsabnahme führt.

In diesem Sinne, schwitzen Sie mal öfters – aber aktiv!

Ihr

Helmut Erbersdobler

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