Zu guter Letzt: Selbstvermessenheit

In einem alten Volksmärchen1 beschwert sich ein Bauer nach einem trockenen Jahr bei Gott über die schlechte Ernte. Er, der Bauer, könne besseres Wetter für bessere Ernten machen. Gott willigt ein und im kommenden Jahr lässt der Bauer Regen- und Sonnentage ganz nach seiner eigenen Vorstellung folgen.

Voller Freude sieht er das Getreide üppig heranwachsen, aber erst zur Erntezeit erkennt er, dass er den Wind zur Blütezeit des Getreides vergessen hat. Und da Getreide ein Windbestäuber ist, sind alle Ähren taub, die Ernte ein Totalausfall. Nun, das Märchen diskreditiert eindeutig den damaligen Ausbildungsstand der Landwirte, es soll ja auch Gottes Weitsicht und den menschlichen Hang zur Selbstüberschätzung – aber auch seinen fehlenden Blick fürs Ganze – herausstellen. Aber irgendwie kam es mir in den Sinn, als in einem Vortrag auf die sog. Quantified-Self--Bewegung hingewiesen wurde.

Unter www.quantifiedself.org, in Deutschland unter qsdeutschland.de  vernetzen sich Anwender und „Gadgets“-Entwickler2 der Selbstquantifizierungsbewegung, die sog. „Self-Tracker“. Quantifiziert und archiviert werden hierbei so verschiedene Dinge wie die eigene Web-Historie, der Stromverbrauch des persönlichen Lebenswandels, aber eben auch eine Vielzahl physiologischer Parameter (Schrittzahl, Atemzüge, Kaubewegungen, Hautwiderstand etc.), ob blutig oder unblutig erworben.

Nun sind sicherlich nicht alle, die regelmäßig einzelne Körperparameter überwachen müssen, des self-trackings verdächtig, und handliche Blutzuckermessgeräte, die Pulsuhr eines Joggers und erst recht die nur das Gewicht anzeigende noch BIA-lose Personenwaage im Bad gehören für Hardliner der Bewegung sicher in die Steinzeit der QS-Bewegung (sind zumindest voll retro). Für mich drängt sich die Frage auf, welche Verhaltensänderungen diese inszenierte Selbstbeobachtung auslöst.

Labormediziner wissen, dass der Katecholaminspiegel in Erwartung des „Pieks“ bei der Blutentnahme für ca. 30 Min. erhöht ist. Wenn man selbst auf den Herzschlag lauscht, verändert sich dessen Frequenz. Aber wie reagiert mein Organismus, wenn ich die Datenflut aus über 300 Selbstbeobachtungs-Apps und mehreren Dutzend Datenerhebungs-Gerätchen3 rein mental in mein einziges Gehirn füttern muss – das (zusammen mit Körperzellen und Reflexbögen) genau diese Parameter doch seit Beginn der menschlichen Evolution und ganz ohne Bluetooth nicht nur laufend überwacht, sondern in der überwiegenden Lebenszeit auch optimal für mich steuert? Ist eine Informations-Rückkopplung zu befürchten? Wer schützt meine Daten vor mir? Gelange ich mental auf völlig neue Daseins-Ebenen, die wiederum der Quantifizierung bedürfen? Vor dem Selbstversuch schrecke ich einstweilen zurück, allein aus Zeitgründen.

Udo Maid-Kohnert

Den Artikel finden Sie in Ernährungs Umschau 10/12 auf Seite 608.

1Birlinger A, Buck MR. Sagen, Märchen und Aberglauben. Freiburg im Breisgau (1861), S. 191-192
2Gadget = engl. für Schnickschnack, technische Spielerei 3http://netzwertig.com/2012/01/10/quantified-selfsich- selbst-besser-verstehen-lernen. Zugriff 10.09.12

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