Editorial 11/2022: Alles Intuition?

„Da waren die Augen mal wieder größer als der Magen“ ist eine Redensart, die ich (nicht nur) aus meiner Kindheit gut kenne. Aber nicht nur Kinder im Angesicht von Eiscreme oder Geburtstagstorte sind von diesem Phänomen betroffen. Bei der „jetzt darf ich-Situation“ an einem leckeren Buffet laden sich viele Erwachsene gerne mehr auf den Teller, als physiologisch an Energie- und Nährstoffzufuhr gerade benötigt würde. „All you can eat“ wird dann leicht zu „more than you need“.

Aber nicht nur ein leckeres Angebot kann zu vermehrter Nahrungsaufnahme verführen: Auch bei einer gemeinsamen Mahlzeit, die sich in angenehmer Gesellschaft gerne auch länger hinziehen darf, wird nicht selten deutlich mehr gegessen, als wenn man allein am Tisch sitzt – ein Effekt, der im Zusammenhang mit der hohen Prävalenz von Mangelernährung vor allem bei alleine lebenden SeniorInnen durchaus erwünscht sein kann.
Das „Intuitive Essen“ ist also eine schwierige Angelegenheit. Zumindest schwieriger, als uns manche „Ratgeber“autorInnen glauben machen wollen. Unsere zeitlich meist eng getaktete Lebensweise mit fast überall und jederzeit verfügbaren hochkalorischen und hochverarbeiteten Lebensmitteln bringt das biologische System der Hunger-Sättigungsregulation an seine Grenzen. Dabei verfügt unser Organismus durchaus über erstaunlich leistungsfähige Regelkreise1, um die Energie- und Nährstoffzufuhr für unseren Körper und allen voran für unser Gehirn als wichtigen „Energieverbraucher“ sicherzustellen.
Mareike Schell und André Kleinridders, Universität Potsdam, stellen im Special-Beitrag ab Seite M610 spannende Zusammenhänge vor. Zugleich machen sie deutlich, dass „intuitives essen“ für Menschen mit Adipositas keine Option und schon gar kein Beratungsansatz ist: Betroffene haben eine andere Wahrnehmung der Nahrungsaufnahme im zentralen Nervensystem. So wie wir bei Fieber trotz objektiv erhöhter Körpertemperatur frieren können, bewirken bei adipösen Menschen eine Insulin- bzw. Leptin-Resistenz der Sensoren im Gehirn, dass trotz ausreichender Blutglukose-Spiegel weiterhin Hunger empfunden wird: „Adipöse können ihren endogenen Signalen nicht vertrauen“ und deshalb nicht „einfach weniger essen“. Ernährungsfachkräfte, die diese Zusammenhänge kennen, können daher der Diskriminierung übergewichtiger Menschen entgegentreten.
Das Special zeigt, wie neurophysiologische und endokrinologische Forschung unser Verständnis für aktuelle Herausforderungen der Ernährung verbessern können. Einen ganz anderen Zugang hierzu wählt die Ernährungssoziologie: Im Interview ab Seite M626 schildert Tina Bartelmeß ihre Erfahrungen bei der Gestaltung der Junior-Professur für diese Disziplin an der Universität Bayreuth, Standort Kulmbach. Gerade im Zusammenspiel dieser großen methodischen Bandbreite liegt die Stärke der Ernährungsforschung insgesamt. Die aktuelle Ausgabe der ERNÄHRUNGS UMSCHAU ist wieder ein schöner Beleg hierfür.

Ihr Udo Maid-Kohnert
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1 Die Deutsche Adipositasgesellschaft verlieh aktuell den (geteilten) Forschungspreis 2022 an Dr. Cristina García Cáceres (Helmholtz Zentrum München) für ihre Forschung zur Regulation der Nahrungsaufnahme durch das Gehirn. Sie zeigte, dass hierbei nicht nur Neuronen, sondern auch Gliazellen (z. B. Astrozyten) eine wesentliche Rolle spielen.



Dieses Editorial finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 11/2022 auf Seite M585.

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