Editorial 1/2020: Wünsche und (Alb)Träume

So ein dekadischer Jahreswechsel bietet immer auch eine besondere Gelegenheit, zurückzuschauen auf das Gewesene und Erreichte und vorauszuschauen auf das Mögliche und das Wünschenswerte.

Vergleichende Statistiken der OECD und anderer internationaler Organisationen halten uns den Spiegel der Wahrheit vors Gesicht: Die höchsten EU-weiten Gesundheits- bzw. Krankheitsausgaben und IN FORM-, Plattform Ernährung und Bewegung e. V. (peb)- oder BZgA-Projekte haben nicht zu einer besseren Gesundheit und höheren Lebenserwartung unserer Bevölkerung geführt. Gewiss, es gibt als Negativbeispiel die USA mit seit drei Jahren stetig gesunkener Lebenserwartung. Unsere Sterberate ist zwar (noch) stabil, aber auch nicht weiter gestiegen, wie bei unseren direkteren Nachbarn, z. B. in der Schweiz. Hinzu kommt die große soziale Ungleichheit in der Gesundheits- und Lebenserwartung mit zusätzlicher Sprengkraft für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gesundheitsförderlichere Ernährung und breite Unterstützung eines aktiveren Lebensstils, eine Abnahme der Zahl regelmäßig vom Alkohol Berauschter und ein weniger sichtbares Tabakmarketing zählen zu den Garanten einer erfolgreichen Ernährungs- und Gesundheitspolitik – wenn man denn will.

Gewiss, mit der Beteiligung an der Reduktionsstrategie hat die Ernährungsindustrie überhaupt akzeptiert, dass viele ihrer verarbeiteten Lebensmittel verbesserungswürdig sind. Trotz beinharten Widerstands des Lebensmittelverbands und nur durch massiven öffentlichen Druck wird jetzt auch bei uns der Nutri-Score eingeführt. Bleibt zu wünschen, dass Lebensmittelproduzenten ihre verarbeiteten Produkte Nutri-Score-like ergrünen lassen und auch der Handel uns VerbraucherInnen die gesündere Auswahl demnächst einfacher macht. Auch dürfte die verstärkte Förderung einer flexitarischen Ernährungsweise nicht nur unserer Gesundheit, sondern auch unserem Klima – im doppelten Wortsinn – nachhaltig zu Gute kommen.

Die politische Großwetterlage und breite öffentliche Meinung sind allerdings zunehmend durch aggressive Stammtischparolen wie „mein Bauch gehört mir“ geprägt und schon länger wird der paternalistische Staat als ein unsere Freiheit bedrohendes Schreckgespenst aufgebaut. Im neuen Jahrzehnt bedarf es mutiger und überzeugungsstarker PolitikerInnen, um kleine und große Präventionsmaßnahmen wirksam werden zu lassen. Und wenn die Politik sich weiterhin auf ein „abwartendes Handeln“ beschränkt und das Primat der Agrar- vor der Ernährungspolitik bestehen bleibt, bedarf es vielleicht auch lautstarker Sunday-for-Health-Aktionen.

Wünschen wir uns ein maßvolles, gesünderes Jahrzehnt, in dem wir am Ende den Gürtel auch gern wieder ein Loch enger stellen können.

Ihr Helmut Heseker



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 1/2020 auf Seite M1.

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