Editorial 04/04: Zuviel des Guten?

Helmut Erbersdobler, Kiel

Prof. Dr. Helmut ErbersdoblerLow carb or no carb!" Bereits 50 Millionen vorwiegend übergewichtige US-Amerikaner folgen dieser Devise, darunter viele Prominente. Sie meiden Lebensmittel mit niedrigem Glykämischen Index , wie Nudeln, Reis, Kartoffeln, Weißbrot und essen stattdessen pfundweise Eier, Fisch, Fleisch(-steaks) und Omeletts. Die Financial Times sah darin den schnellsten Richtungswechsel im amerikanischen Essverhalten seit Jahrzehnten. Es existieren bereits Lebensmittelketten für kohlenhydatarme Lebensmittel, es gibt "low carb" Bier, Pizzas, Süßigkeiten, manche Fast-Food-Ketten in New York sollen ihre Hamburger ohne Brötchen anbieten. Und es existiert bereits eine Anti-Kohlenhydrat-Lobby. Das "Carbohydrate Awareness Council" veranstaltet im Herbst einen Kongress mit Ausstellung zu diesem Thema.

Wenn auch an der Sache mit dem GI sicher "was dran ist", so sind die vorliegenden Daten für eine derartige Euphorie (oder eher Hysterie?) noch nicht ausreichend, wie der Beitrag in dieser und der vorherigen Ausgabe der Ernährungs-Umschau zeigt. Das gilt selbst für die Validität der vorliegenden GI-Daten. So stellte Arne Astrup aus Kopenhagen kürzlich auf dem ISFE-Symposium in Madrid Untersuchungen vor, in denen analysierte GI-Werte mit aus Tabellen errechneten Werten verglichen wurden. Die Ergebnisse waren niederschmetternd, denn es wurde praktisch keine Übereinstimmung gefunden. Wie soll man mit einer derartigen Datenbasis eine vernünftige Empfehlungsstrategie aufbauen? Aber was ist richtig? Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte. Aktuelle Untersuchungen und Berechnungen zeigen, dass auf energieäquivalenter Basis Kohlenhydrate und Fette gleichermaßen zum Übergewicht beitragen, wenn zu viel verzehrt wird. Bei adäquater und ausgewogener Ernährung machen Reis & Co. nicht fett, wie die Beispiele Japan, Thailand und China zeigen. Mit steigendem Wohlstand nimmt mit der Verwestlichung des Konsums und der Lebensgewohnheiten aber auch das Körpergewicht zu, wie am Beispiel des "Speckgürtels" um die Industriezentren in China zu beobachten ist. Ein weiteres Beispiel für den "Verlust der Mitte" zeigen die beiden Arbeiten über die Jodaufnahme in Deutschland. Bisher an Kochsalz gebunden, war gegen eine Jod-Überversorgung eine hervorragend wirkende Verzehrsbremse eingebaut (man kann zwar mal die Suppe versalzen, erreicht aber bald die Grenze des Erträglichen). Nach Einschätzung der Autoren haben wir inzwischen eine "fast befriedigende" bis "optimale" bzw. "suffiziente" Versorgung erreicht. Wir könnten uns also damit zufrieden geben, dieses Niveau zu halten bzw. flächendeckend noch zu verbessern.  Wenn nicht die Industrie das gute Image einer Jodanreicherung zur Gestaltung so genannter Functional Foods nützen würde. So wird inzwischen ein Riegel angeboten, dem 100 µg Jod zugesetzt wurden. Das ist schon die Hälfte der empfohlenen Zufuhr. Verzehrt eine Frau nun mehrere der wohlschmeckenden Riegel zusammen mit einem ebenfalls mit Jod angereicherten Multi-Vitaminsaft, würde sie bereits mehr als 500 µg Jod, die sichere Gesamtzufuhr, aufnehmen. Und wir stehen vermutlich erst am Beginn der Anreicherungswelle.Meine Forderung daher: Nicht zuviel des Guten, lasst das Jod im Kochsalz und verzichtet auf die Jod-Anreicherung von Functional Foods!

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